Herfried Münkler
Urteilskraft geprüft hätte.14 Aber dazu hätte man sich mehr mit der politischen
Ideengeschichte beschäftigen müssen.15
Die naheliegende Alternative zur Analogie von 1989 war die von 1789 oder
besser von 1792 bis 1814, also die Zeit vom Beginn der radikalen Phase der
Französischen Revolution bis zum Zusammenbruch der napoleonischen Groß-
reichsbildung: eine Revolution, die nicht auf eine Veränderung der politischen
Ordnung beschränkt blieb, sondern eine Dynamik entwickelte, die schon bald
auf die städtischen Massen und das Land außerhalb der Hauptstadt Übergriff,
die also auch eine Revolution der gesellschaftlichen Ordnung war.16 Durch ihre
sich Überschlagende Dynamik rief sie die Sehnsucht nach dem starken Mann
hervor, der die ständigen Veränderungen in geordnete Bahnen bringen sollte und
den Menschen wieder eine stabile Eiwartungssicherheit geben würde. Gleich-
zeitig stellte die Revolution mit expansiver Wucht die bestehenden Grenzen der
europäischen Staatenwelt in Frage, griff weit über die Grenzen Frankreichs hi-
naus, und mündete schließlich in eine Abfolge von Kriegen, die erst durch ei-
ne mächtige Koalition mit Großbritannien und Russland an der Spitze sowie
Preußen und Österreich als „Zünglein an der Waage“ beendet wurden. Das war
die alternative historische Parallele zu der von den „friedlichen Revolutionen“
im Hinblick auf die Ereignisse in der arabischen Welt. - Historische Analogien
haben Grenzen, und niemals sind sie die Blaupausen für den aktuellen Gang
der Geschichte. Sie sind bei ihrer Anwendung auf Urteilskraft angewiesen. Wie
muss man sich das vorstellen?
Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France sind ein Beispiel für
den Gebrauch von Analogien unter der Kontrolle politischer Urteilskraft.17 Als
im Jahre 1790 noch niemand von Napoleon wusste und ihn keiner kannte, pro-
gnostizierte Burke den Aufstieg eines Militärs, der die Macht an sich reißen wer-
de. Wie konnte Burke das wissen? Für ihn war der Blick zurück naheliegend,
der Blick in die englische Geschichte, in diesem Fall auf die Revolution von
1640-1660, die „bloody revolution“, und nicht auf die Revolution von 1688/89,
14 Vgl. aus einer desillusionierten Sicht: Anne-Beatrice Clasmann, Der arabische (Alb-)Traum.
Aufstand ohne Ziel, Wien 2015, sowie Marc Lynch, Die neuen Kriege in der arabischen Welt. Wie
aus Aufständen Anarchie wurde, Hamburg 2016.
15 Dazu das Einleitungskapitel „Was ist und wozu studiert man politische Theorie und Ideen-
geschichte“ in Herfried Münkler/Grit Straßenberger, Politische Theorie und Ideengeschichte. Eine
Einführung, München 2016, S. 11-25.
16 Frangois Furet und Denis Richet (Die Französische Revolution, S. 84 ff. und 160 ff.) haben von
drei Revolutionen, der Revolution der Notabein, der Revolution der Pariser Straße und der
Revolution des Landes, gesprochen, die sich teleskopartig zusammenschoben und das revo-
lutionäre Projekt zum „entgleisen“ brachten.
17 Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution. In der deutschen Übertragung
von Friedrich Gentz. Bearbeitet und mit einem Nachwort von Lore Iser. Einleitung von
Dieter Henrich, Frankfurt am Main 1967.
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Urteilskraft geprüft hätte.14 Aber dazu hätte man sich mehr mit der politischen
Ideengeschichte beschäftigen müssen.15
Die naheliegende Alternative zur Analogie von 1989 war die von 1789 oder
besser von 1792 bis 1814, also die Zeit vom Beginn der radikalen Phase der
Französischen Revolution bis zum Zusammenbruch der napoleonischen Groß-
reichsbildung: eine Revolution, die nicht auf eine Veränderung der politischen
Ordnung beschränkt blieb, sondern eine Dynamik entwickelte, die schon bald
auf die städtischen Massen und das Land außerhalb der Hauptstadt Übergriff,
die also auch eine Revolution der gesellschaftlichen Ordnung war.16 Durch ihre
sich Überschlagende Dynamik rief sie die Sehnsucht nach dem starken Mann
hervor, der die ständigen Veränderungen in geordnete Bahnen bringen sollte und
den Menschen wieder eine stabile Eiwartungssicherheit geben würde. Gleich-
zeitig stellte die Revolution mit expansiver Wucht die bestehenden Grenzen der
europäischen Staatenwelt in Frage, griff weit über die Grenzen Frankreichs hi-
naus, und mündete schließlich in eine Abfolge von Kriegen, die erst durch ei-
ne mächtige Koalition mit Großbritannien und Russland an der Spitze sowie
Preußen und Österreich als „Zünglein an der Waage“ beendet wurden. Das war
die alternative historische Parallele zu der von den „friedlichen Revolutionen“
im Hinblick auf die Ereignisse in der arabischen Welt. - Historische Analogien
haben Grenzen, und niemals sind sie die Blaupausen für den aktuellen Gang
der Geschichte. Sie sind bei ihrer Anwendung auf Urteilskraft angewiesen. Wie
muss man sich das vorstellen?
Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France sind ein Beispiel für
den Gebrauch von Analogien unter der Kontrolle politischer Urteilskraft.17 Als
im Jahre 1790 noch niemand von Napoleon wusste und ihn keiner kannte, pro-
gnostizierte Burke den Aufstieg eines Militärs, der die Macht an sich reißen wer-
de. Wie konnte Burke das wissen? Für ihn war der Blick zurück naheliegend,
der Blick in die englische Geschichte, in diesem Fall auf die Revolution von
1640-1660, die „bloody revolution“, und nicht auf die Revolution von 1688/89,
14 Vgl. aus einer desillusionierten Sicht: Anne-Beatrice Clasmann, Der arabische (Alb-)Traum.
Aufstand ohne Ziel, Wien 2015, sowie Marc Lynch, Die neuen Kriege in der arabischen Welt. Wie
aus Aufständen Anarchie wurde, Hamburg 2016.
15 Dazu das Einleitungskapitel „Was ist und wozu studiert man politische Theorie und Ideen-
geschichte“ in Herfried Münkler/Grit Straßenberger, Politische Theorie und Ideengeschichte. Eine
Einführung, München 2016, S. 11-25.
16 Frangois Furet und Denis Richet (Die Französische Revolution, S. 84 ff. und 160 ff.) haben von
drei Revolutionen, der Revolution der Notabein, der Revolution der Pariser Straße und der
Revolution des Landes, gesprochen, die sich teleskopartig zusammenschoben und das revo-
lutionäre Projekt zum „entgleisen“ brachten.
17 Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution. In der deutschen Übertragung
von Friedrich Gentz. Bearbeitet und mit einem Nachwort von Lore Iser. Einleitung von
Dieter Henrich, Frankfurt am Main 1967.
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