II. Wissenschaftliche Vorträge
den Mitgliedern des politischen Verbands überhaupt ermöglichen, sich einander
als zugehörig zu erkennen. Peter Graf Kielmansegg führt dazu aus, dass gerade
freiheitliche Gemeinwesen darauf angewiesen sind, dass „ihre Bürgerschaften
durch das Bewusstsein einer gemeinsamen politischen Identität zusammenge-
halten werden“.20 Dieser sense of belonging, dieses Wir-Bewusstsein motiviert dann
nicht nur das Gefühl der Verantwortlichkeit des einzelnen für das Gemeinwesen,
sondern sichert auch die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidungen durch die Min-
derheit sowie den reziproken Respekt der Mehrheit vor den Rechten der Min-
derheiten, und schließlich drittens die Übernahme von Solidarpflichten auch in
materieller Hinsicht.21
Die Ressource der Solidarität hängt mit der Bedingung eines wechselseiti-
gen Vertrauens in der Bürgerschaft zusammen. Gerade in jenen Demokratien, die
mit hohen Sozialleistungen und Umverteilungsquoten einhergehen, die zudem
unabhängig der Staatsangehörigkeit auch an jene ausgezahlt werden, denen ein
Gebietszugang gewährt wird, werden die Solidarpflichten nur dann konfliktfrei
erfüllt werden, wenn diejenigen, die davon profitieren, langfristig in die auf Re-
ziprozität angelegte Gemeinschaft aufgenommen werden. Nun zahlen zwar auch
Nicht-Staatsangehörige, wenn sie im Arbeitsmarkt integriert sind, Steuern und
Beiträge in die Sozialversicherungen und damit in den Sozialvertrag ein. Aber de-
mokratietheoretisch begründet der dauerhafte Wohnsitz ein Recht auf Mitglied-
schaft in der Bürgerschaft - die Adressaten des Rechts müssen langfristig gesehen
auch seine Autoren sein. Klaus Gärditz spricht hier von einem demokratischen
spill-over der Gebietszulassung und diese Fragen müssen im politischen Raum in
einem demokratischen Prozess mit öffentlicher Diskussion entschieden werden -
bekanntlich etwas, für das die Kanzlerin unter dem Druck der Ereignisse meinte
keine Zeit zu haben.22
Auch wenn man die Bundesregierung nicht wie Ulrich di Fabio dafür kritisiert,
die staatliche Gemeinschaft mit der Politik offener Grenzen grundlegend überlas-
tet zu haben, muss man doch analysieren, was der tiefere Grund gewesen ist, dass
neben der Willkommenskultur und dem Engagement der Zivilgesellschaft so vie-
le Menschen die Aufnahme von Flüchtlingen abgelehnt haben, obwohl sie selbst
womöglich gar keine Einschränkungen in ihrem Alltag durch belegte Turnhallen
und andere Unannehmlichkeiten mehr erlebt haben mögen oder überhaupt je ei-
nen Flüchtling zu Gesicht bekommen haben. Gewiss: aus sozialpsychologischer
20 Peter Graf Kielmansegg: Verfassungspatriotismus. Ein Nachwort?, in: Alexander Gallus/Tho-
mas Schubert/Tom Thieme (Hrsg.), Deutsche Kontroversen, Baden-Baden 2013, S. 42-59,
hier S. 51.
21 Vgl. ebd.
22 Klaus F. Gärditz: Die Ordnungsfunktion der Staatsgrenze: Demokratizität, Liberalität und
Territorialität im Kontext, in: Der Staat in der Flüchtlingskrise, hrsg. v. Otto Depenheuer/
Christoph Grabenwerter, Paderborn 2016, S. 105-122, hier S. 110.
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den Mitgliedern des politischen Verbands überhaupt ermöglichen, sich einander
als zugehörig zu erkennen. Peter Graf Kielmansegg führt dazu aus, dass gerade
freiheitliche Gemeinwesen darauf angewiesen sind, dass „ihre Bürgerschaften
durch das Bewusstsein einer gemeinsamen politischen Identität zusammenge-
halten werden“.20 Dieser sense of belonging, dieses Wir-Bewusstsein motiviert dann
nicht nur das Gefühl der Verantwortlichkeit des einzelnen für das Gemeinwesen,
sondern sichert auch die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidungen durch die Min-
derheit sowie den reziproken Respekt der Mehrheit vor den Rechten der Min-
derheiten, und schließlich drittens die Übernahme von Solidarpflichten auch in
materieller Hinsicht.21
Die Ressource der Solidarität hängt mit der Bedingung eines wechselseiti-
gen Vertrauens in der Bürgerschaft zusammen. Gerade in jenen Demokratien, die
mit hohen Sozialleistungen und Umverteilungsquoten einhergehen, die zudem
unabhängig der Staatsangehörigkeit auch an jene ausgezahlt werden, denen ein
Gebietszugang gewährt wird, werden die Solidarpflichten nur dann konfliktfrei
erfüllt werden, wenn diejenigen, die davon profitieren, langfristig in die auf Re-
ziprozität angelegte Gemeinschaft aufgenommen werden. Nun zahlen zwar auch
Nicht-Staatsangehörige, wenn sie im Arbeitsmarkt integriert sind, Steuern und
Beiträge in die Sozialversicherungen und damit in den Sozialvertrag ein. Aber de-
mokratietheoretisch begründet der dauerhafte Wohnsitz ein Recht auf Mitglied-
schaft in der Bürgerschaft - die Adressaten des Rechts müssen langfristig gesehen
auch seine Autoren sein. Klaus Gärditz spricht hier von einem demokratischen
spill-over der Gebietszulassung und diese Fragen müssen im politischen Raum in
einem demokratischen Prozess mit öffentlicher Diskussion entschieden werden -
bekanntlich etwas, für das die Kanzlerin unter dem Druck der Ereignisse meinte
keine Zeit zu haben.22
Auch wenn man die Bundesregierung nicht wie Ulrich di Fabio dafür kritisiert,
die staatliche Gemeinschaft mit der Politik offener Grenzen grundlegend überlas-
tet zu haben, muss man doch analysieren, was der tiefere Grund gewesen ist, dass
neben der Willkommenskultur und dem Engagement der Zivilgesellschaft so vie-
le Menschen die Aufnahme von Flüchtlingen abgelehnt haben, obwohl sie selbst
womöglich gar keine Einschränkungen in ihrem Alltag durch belegte Turnhallen
und andere Unannehmlichkeiten mehr erlebt haben mögen oder überhaupt je ei-
nen Flüchtling zu Gesicht bekommen haben. Gewiss: aus sozialpsychologischer
20 Peter Graf Kielmansegg: Verfassungspatriotismus. Ein Nachwort?, in: Alexander Gallus/Tho-
mas Schubert/Tom Thieme (Hrsg.), Deutsche Kontroversen, Baden-Baden 2013, S. 42-59,
hier S. 51.
21 Vgl. ebd.
22 Klaus F. Gärditz: Die Ordnungsfunktion der Staatsgrenze: Demokratizität, Liberalität und
Territorialität im Kontext, in: Der Staat in der Flüchtlingskrise, hrsg. v. Otto Depenheuer/
Christoph Grabenwerter, Paderborn 2016, S. 105-122, hier S. 110.
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