Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2017 — 2018

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2017
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Wolgast, Eike: Kirchenordnungen als kodifizierte Reformation: Bilanz eines Heidelberger Editionsvorhabens
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55651#0092
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
II. Wissenschaftliche Vorträge

Indem der territoriale Geltungsbereich definiert wurde, steckte jede Kirchenord-
nung einen spezifischen Konfessionsraum ab und trug damit zum Territorialisie-
rungsprozess des frühmodernen Staates bei.
Nicht jede Kirchenordnung war inhaltlich originär und eine Neuschöpfung.
Je mehr Territorien und Städte sich der Reformation zuwandten, desto größer
wurde der Bestand an Texten, auf die bei der Formulierung neuer Ordnungen
zurückgegriffen werden konnte. Die größte Wirkung entfaltete im Reich die von
Andreas Osiander unter Mitarbeit von Johannes Brenz erarbeitete gemeinsame
Kirchenordnung der Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach und der Reichsstadt
Nürnberg, die 1533 publiziert wurde (EKO 11, 140-205). Sie diente seither viel-
fach - ganz oder in Teilen - als Referenztext für andere Ordnungen. Auch die
Kirchenordnung, die 1539 bei Einführung der Reformation im albertinischen
Sachsen abgefasst wurde, die sog. Heinrichsagende (EKO 1, 264-281), wirkte auf
andere Ordnungen ein, so auf die mecklenburgische Kirchenordnung von 1552
(EKO 5, 161-219), die dann ihrerseits einflussreich wurde, da Philipp Melan-
chthon sie durchgesehen und erweitert hatte. Die letzte Ordnung, die als Leittext
für andere Ordnungen diente, war die württembergische Kirchenordnung von
1553 (EKO 16, 223-276).
Die Kirchenordnung war das wichtigste Instrument der weltlichen Ob-
rigkeit zur Normsetzung und - über die Visitationsinstruktionen - zur Norm-
durchsetzung ihrer Vorstellungen in kirchlich-religiösen Angelegenheiten. Als
Ordnungsgeber in einem Rechts- und Kompetenzbereich, der ihnen bis dahin
im Wesentlichen verschlossen geblieben war, etablierten sich die evangelischen
Fürsten und Stadtmagistrate als neue kirchliche öberkeit. Luthers ursprünglicher
Konzeption zufolge, wie er sie 1528 in der Vorrede zum „Unterricht der Visita-
toren an die Pfarrherren im Kurfürstentum Sachsen“ entwickelt hatte, sollte der
Landesfürst als letzte intakte Obrigkeit nach dem Versagen der Bischöfe subsidiär
und vikariierend die geistliche Autoritätslücke füllen, obwohl er, wie Luther aus-
drücklich hervorhob, dazu „nach weltlicher öberkeit nicht schuldig“ sei (WA 26,
197,26). Ohne auf diese Konstruktion einer Hilfsfunktion anstelle der eigentlich
zuständigen geistlichen Obrigkeit zurückzugreifen, legitimierten sich die evange-
lischen Ordnungsgeber seither in ihren Vorreden zu Kirchenordnungen durch-
gehend mit der Berufung auf das ihnen von Gott auferlegte Amt als „christliche
Obrigkeit“ - „so uns auß tragendem und von Gott befohlenem Ampt gebüret“
(Leiningen 1566; EKO 19/1, 230). Ihrem neugewonnenen Amtsverständnis zu-
folge hatten sie nicht nur die tradierten Aufgaben einer weltlichen Obrigkeit wie
Sorge für Frieden und Recht sowie für das bonum commune wahrzunehmen,
sondern prioritär die Sorge für das Seelenheil ihrer Untertanen durch Einführung
und Schutz der reinen Lehre und Verkündigung sowie der richtigen Sakraments-
verwaltung zu tragen. Als biblische Vorbilder beriefen sie sich auf die frommen
Könige des Alten Testaments und auf die christlichen Kaiser Konstantin, Justinian

92
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften