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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2002 — 2003

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I. Das Geschäftsjahr 2002
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 15. Juni 2002
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Maul, Stefan M.: Die "Befreiung vom Bann" - Überlegungen zu altorientalischen Konzeptionen von "Krankheit" und "Heilung"
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https://doi.org/10.11588/diglit.66351#0070
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15. Juni 2002

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genen Jahre aus etwa 100 Tontafeln und Tontafelfragmenten aus der Bibliothek des
Kizir-Assur rekonstruiert werden.
Im folgenden soll der Verlauf der Behandlung in knapper Form referiert wer-
den. Unter Bittgebeten an die Götter der Heil- und Beschwörungskunst, ohne deren
Gunst und Segen keine Handlung des Beschwörers Wirkkraft zeitigen könnte, fer-
tigte der aschipu ein Frauenfigürchen aus Ton, das mit der Gewandung einer Braut
ausgestattet wurde. Es stellte mamitu, den „Bann“, dar, der ausgestattet mit Proviant,
in das „Land ohne Wiederkehr“, die Unterwelt, reisen sollte. Mit Worten, die als
göttliche Offenbarung galten, befahl der Beschwörer der mamitu, alles zu essen, was
man ihr gibt; alles anzunehmen, was man ihr übereignet, und alles zu hören, was man
ihr sagt.
Vor den durch Opfer und Gebet herbeigerufenen Sonnengott, den Gott des
Rechts und der Gerechtigkeit, traten nun der Erkrankte und sein Widerpart, das
Figürchen, in dem der diffuse todbringende Bann Gestalt gewann und so faßbar,
namhaft und ansprechbar wurde. Im Rahmen des Rituals entfaltete sich ein regel-
rechter Revisionsprozeß vor dem Sonnen- und Richtergott, in dessen Verlauf das
unwiderrufliche göttliche Urteil der Ächtung des Erkrankten so wiederholt wurde,
daß der Betroffene keinem dauerhaften Schaden ausgesetzt sein würde. Als Anwalt
des Kranken trat der Beschwörer selbst auf, der diesen an der Hand faßte und sich
in seinem Namen an den Gott wandte.
Nun rückte der Erkrankte selbst ms Zentrum des Geschehens. Nach einem
Sündenbekenntnis war es seine Aufgabe, dem Figürchen des Banns ein Lösegeld zu
überreichen. Die mamitu, der „Bann“, war durch die zu Beginn gesprochene
Beschwörung zur Annahme verpflichtet und wurde so gewissermaßen rechtskräftig
entschädigt, mamitu mußte daher den Kranken freigeben und von ihm lassen. Mit
dieser Wendung des Geschehens war auch der rituelle Revisionsprozeß zugunsten
des Erkrankten entschieden. Da nun die Kraft des todverheißenden Gottesurteils
und damit der Schädigungswille der Götter ebenso gebrochen war, wie die Kraft der
mamitu, konnte die eigentliche Behandlung des Patienten beginnen. Denn babylo-
nisch-assyrischen Vorstellungen zufolge kann erst wenn die ‘Quelle’ des Unheils ver-
siegt ist, der Mensch erfolgversprechend von dem ihm anhaftenden Unheil befreit
werden, das nun nicht mehr ‘nachfließen’ kann.
Aus unterschiedlichen Mehlarten formte der Beschwörer zahlreiche Teig-
klümpchen. Mit einem sakramentalen Segen wurde jedem einzelnen von ihnen
Heilkraft verliehen. Dann rieb der Beschwörer seinen Patienten von Kopf bis Fuß
mit den Teigbatzen ab. Durch dieses „peeling“ sollte das feinstoffliche Unheil von
dem Erkrankten genommen werden. Die Teigklümpchen, die den ‘Unheilsstoff’ in
sich tragen, sollten völlig aufgelöst, sozusagen homöopathisch verdünnt in alle Teile
der Welt verstreut werden. Den drei Tieren, die für Himmel, Erde und Wasser, die
drei kosmischen Bereiche des mesopotamischen Weltbildes, stehen, wurden die Teig-
klümpchen verfüttert. Ein Vogel, ein Kalb und ein Fisch sollten so das Unheil regel-
recht verdauen, davontragen und unschädlich gemacht ausscheiden.
Die als Braut ausgestattete Figur des „Bannes“ wurde dann vor dem Sonnen-
und Richtergott mit dem erkrankten Menschen in einem Ritus verehelicht, der als
 
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