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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2002 — 2003

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I. Das Geschäftsjahr 2002
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 14. Dezember 2002
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Sellin, Volker: Stuart und Bonaparte: zwei Typen von Legitimität - zwei Typen von Scheitern
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https://doi.org/10.11588/diglit.66351#0093
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104 | SITZUNGEN

WISSENSCHAFTLICHE SITZUNG
Herr Burkhardt, Herr Höffe und Herr Pritschow halten ihre Antrittsreden.
Herr Volker Sellin hält einen wissenschaftlichen Vortrag: „Stuart und Bonaparte.
Zwei Typen von Legitimität — zwei Typen von Scheitern“.
Gegenstand des Vortrags ist der Wandel der monarchischen Legitimität im neuzeitli-
chen Europa. Die Analyse fußt auf der Erwartung, daß die Grundlagen monarchi-
scher Herrschaft im Augenblick und durch die Umstände des Scheiterns besonders
deutlich zutage treten. Zunächst werden zwei Herrscher aus dem Hause Stuart und
die französischen Kaiser aus dem Hause Bonaparte ausgewählt, deren Regierungen
sämtlich durch Absetzung vorzeitig beendet wurden: Der englische König Karl I.
Stuart wurde nach zwei Bürgerkriegen im Januar 1649 hingerichtet; sein Sohn Jakob
II. floh vor den Truppen Wilhelms von Oranien im Herbst 1688 nach Frankreich;
Napoleon I. wurde nach der Einnahme von Paris durch die Koalition am 3. April
1814 vom französischen Senat abgesetzt; und das Zweite Kaiserreich Napoleons III.
ging zugrunde, als am 4. September 1870, zwei Tage nach der Schlacht bei Sedan, in
Paris die Republik ausgerufen wurde.
Ein Vergleich dieser vier Herrscherabsetzungen zeigt, daß Karl I. und Jakob II.
auf der einen und die beiden französischen Kaiser auf der anderen Seite die Zustim-
mung ihrer Untertanen aus ganz unterschiedlichen Gründen verloren hatten. Diese
Gründe erschließen sich durch die Analyse der jeweiligen Legitimitätsquellen.
Während die Legitimität der Stuartkönige darauf beruht hatte, daß sie im Sinne der
geltenden Erbfolgeordnung legal auf den Thron gelangt waren und dort die Herr-
schaft des Rechts — the nile of law — garantiert hatten, war die Legitimität der franzö-
sischen Kaiser abhängig von der Erfüllung der in sie gesetzten Erwartungen. Die bei-
den Stuarts scheiterten, weil ihre Untertanen das Vertrauen verloren hatten, daß sie
das überlieferte Recht schützen würden. Ihr Sturz war das Ergebnis eines Verfas-
sungskonflikts, in dem das Parlament sich durchsetzte. Die Bonapartes dagegen schei-
terten, weil der Erfolg sie verlassen hatte. Nicht zufällig verloren sie ihre Throne in
dem Augenblick, als der Feind im Lande stand.
Die naheliegende Deutung, daß die Bonapartes aus der Revolution hervorge-
gangen und daher Usurpatoren gewesen seien, die ihre Herrschaft nur durch den
Erfolg hätten aufrechterhalten können, greift zu kurz, denn in Wirklichkeit mußten
seit der Französischen Revolution auch dynastisch legitimierte Herrscher ihre Herr-
schaft in wachsendem Maße zusätzlich dadurch rechtfertigen, daß sie den politischen
Erwartungen und Wünschen der Nation entgegenkamen. Im Zuge der deutschen
und italienischen Einigung wurden zahlreiche Herrscher wie der König von Han-
nover, der Kurfürst von Hessen, aber auch der König von Neapel und andere nur
deshalb abgesetzt, weil ihre partikularstaatliche Existenz mit dem nationalen Pro-
gramm nicht vereinbar schien. Das Ende der Monarchie in den Verliererstaaten
Deutschland, Osterreich-Ungarn und Rußland am Ende des Ersten Weltkriegs steht
sogar in unmittelbarer Parallele zum Sturz der beiden französischen Kaiser.
In Legitimität und Scheitern repräsentieren demnach die beiden Stuartkönige
einen einheitlichen Typus, den Typus des Anden Regime, die Bonapartes dagegen den
 
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