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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2014
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Boehm, Thomas: Die evolutionären Wurzeln der Immunität: Sitzung der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse am 24. Januar 2014
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0043
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Thomas Boehm

durch Aggregation gleichartiger und/oder Abstoßung verschiedener Unterformen
räumliche Segregation ermöglicht (Gibbs et al., 2008). In mechanistischer Hin-
sicht sind immunologische Systeme entweder auf die Erkennung von Selbst (auch
in der Variation einer Erkennung der Abwesenheit von Selbst) oder auf die Erken-
nung von Nicht-Selbst fokussiert; oft werden beide Prinzipien bei der Immunab-
wehr auch nutzbringend kombiniert (Boehm, 2006).
Immunologische Systeme nutzen antizipatorische und adaptive Prinzipien,
die sich schon bei Einzellern finden lassen. Bakterien schützen sich beispielsweise
mit gekoppelten Restriktions- und Modifikationsystemen (Wilson und Murray,
1991): Während die Restriktionsfunktion fremde DNA zerstört, ist die eigene
Information durch die Modifikationsfunktion geschützt. Anpassungsreaktionen
zeigen sich nach der Infektion von Bakterien mit bestimmten Viren: Bei den
Überlebenden kommt es zur Veränderung des Bakteriengenoms, welche als eine
Art molekularen Gedächtnisses vergangener Infektionen die Resistenz gegen neu-
erliche Infektionen mit den gleichen Virentypen steigert (Horvath und Barrangou,
2010). Angesichts der vielschichtigen Verteidigungsstrategien im Immunsystem
überrascht es nicht, dass Parasiten ihrerseits Prozesse in Gang setzen, um die Ab-
wehrmechanismen der Wirtsorganismen zu unterlaufen. Es kommt zu einem
Wettlauf, der Immunsysteme und die ihnen entgegenlaufenden Pathogenitäts-
funktionen in einen immerwährenden Anpassungszyklus zwingt. Letztlich führt
dieser Prozess zu komplexen funktionellen Verschränkungen in der Biosphäre,
wenn ein Bakterium beispielsweise sowohl Wirt für ein Virus, als auch Parasit in
einem mehrzelligen Organismus sein kann. Die sich aus solch in ihrer Komplexität
fast beliebig steigerungsfähigen Wirt/Parasit-Verhältnissen ergebenden wechselsei-
tigen Abhängigkeiten zeitigen bemerkenswerte Folgen. Das Immunsystem beein-
flusst nicht nur die Fitness einzelner Individuen und damit deren intra-spezifische
Kompetitionsfähigkeit, der Grad der Erregerresistenz bestimmt zudem die Re-
produktionsrate ganzer Populationen und nimmt damit weitreichenden Einfluss
auf die inter-spezifische Kompetition von Organismen. Die in großem Maße von
immunologischen Faktoren bestimmte Koevolution von Wirt und Parasit und da-
mit der Struktur von Ökosystemen könnte sogar der Entstehung und dem Erhalt
sexueller Fortpflanzungsformen zugrunde liegen (Hamilton et al., 1990). Sexuelle
Fortpflanzung erlaubt durch die in jeder Generation mögliche Neukombinati-
on genetischer Merkmale eine im Vergleich zur ungeschlechtlichen Vermehrung
(Knospung) deutlich raschere Anpassung an gewandelte Lebensbedingungen. Es
verwundert deshalb nicht, dass immunologische und reproduktive Systeme auch
funktionell miteinander verschränkt sind (Leinders-Zufall et al., 2004), um Nach-
kommen mit optimal umgebungsangepassten Immungenen zu versorgen.
Unsere rezenten Arbeiten fokussieren sich auf die Immunsysteme der Wir-
beltiere, einer Tiergruppe, die vor etwa 500 Millionen Jahren entstand und in zwei
Grundformen alle Ökosysteme der belebten Welt bevölkert. Die etwa 100 Spezies

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