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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2014
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II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Hauschild, Thomas: Geister. Warum wir sie immer wieder sehen müssen: Gesamtsitzung am 25. Januar 2014
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https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0046
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II. Wissenschaftliche Vorträge

oder als „geistvolle“ Reden, Filme, Bücher usw. ist die Erzählung von den Geistern
jedoch weiterhin tief in zahlreiche Sprachen eingebaut, auch die der aufgeklärten
Gesellschaften. Und im privaten Leben werden manche Menschen durchaus als
„normal“ durchgehen, obwohl sie über ihre eigenen Geistererfahrungen berich-
ten oder Erzählungen über Geister kolportieren. Das spielerische Schaudern vor
Geistern beim Konsum von Medienerzeugnissen (Kinderbücher, Horrorfilme)
sowie die Inszenierung von Geistern durch Maskenfeste (Halloween, Karneval)
sind trotz Aufklärung ohnehin ein wesentlicher Bestandteil der populären Kultu-
ren westlicher Gesellschaften.
2. Protoreligiöse Poiesis
Man glaubt nicht an die Geister, aber sie erscheinen manchmal als real oder verur-
sachen realen Schauder. In meinem Buch „Geister“ werde ich versuchen, mit die-
sen Widersprüchen zu arbeiten. Die kognitiven Konzepte von ernsten und unerns-
ten „Geistern“, so, wie sie sich in westlichen Massengesellschaften seit etwa 1800
eingependelt haben, weisen einen gemeinsamen Nenner auf: Das Wort „Hor-
ror“ kommt von lateinisch horrere, „Sträuben“, und meint die „Gänsehaut“, die
schlussendlich selbst der Held des Grimmschen Märchens „Von einem der aus-
zog das Fürchten zu lernen“ erleben muss. Bei Grimms unerschrockenem Hel-
den reicht ein Guss Eiswasser mit Fischen, ihn doch noch das Gruseln zu lehren.
Individuell kolportierte Geistererfahrungen, unernste mediale Gruselerzeugnisse,
Halloween-Maskeraden, Kinderbücher und manche vom Geist wissenschaftlicher
Aufklärung des „Abgründigen“ oder der „Parapsychologie“ getragene Praktiken
vereint dieser physische Effekt des Schauders.
Auffällig ist in diesem Zusammenhang die breite wissenschaftliche und popu-
läre Literatur über Nahtoderfahrungen. Die sterbenden, gestorbenen, wiederbe-
lebten Protagonisten dieser Literaturen berichten von der Erfahrung des „Horror“,
des Schauderns - aber auch von Schwindel, Sturz, Schwellen, Tunnelerlebnissen,
Schwärze und einer Rekapitulation wichtiger Szenen des erlebten Lebens, häufig
erzählen sie auch von Begegnungen mit verstorbenen Veiwandten, Seelenführern,
Geistwesen und reinem Licht. Der Schock einer zunächst nur vorgestellten oder
körperlich realen Todesnähe öffnet mitten in der aufgeklärten Moderne das Tor
zur mystischen Erfahrung - oder zu neuen Bewusstseinstheorien, die durchaus
im Wissenschaftsbetrieb ihren Platz haben, z. B. bei Psychiatern, Neurobiologen,
Hirnforschern.
Von diesen Voraussetzungen ausgehend werde ich in meinem Buch tradi-
tionale Geisterlehren und Geisterpraktiken einiger Europa sehr fern stehender
Gesellschaften niedriger Naturbeherrschung (afrikanische, sibirische und ozeani-
sche Stammeskulturen im 18. bis 20. Jahrhundert) auf Gemeinsamkeiten wie den
„Schauder“ absuchen - und die Geisterfahrungen, die auch Nahtod-Erzählungen

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