Thomas Hauschild
und neurobiologisch-experimentelle Anordnungen bereit halten. Hinzu kommt
die Analyse juristischer Praktiken und dynastischer, an königliche Häuser und
royale oder imperiale Familien gebundener Geister-Erzählungen in den Mittel-
altern und Neuzeiten Chinas und Europas. Unter dem Druck der zunehmend
aufgeklärten Öffentlichkeit, das ergeben meine Studien, bahnten sich diese dynas-
tischen und juristischen Geistererzählungen Wege in die weniger ernsten Genres
des frühen Kriminal- und Horror-Romans. Eine Rekonstruktion des Topos der
„Hysterie“ - gegen den Strich dekonstruktiver Lehren der letzten Jahrzehnte ge-
lesen - verstärkt das Bild, dass es bei Geistererfahrungen im Kern um eine rudi-
mentäre Universalie geht. Bei den klassischen Hysterikerinnen der Psychiatrie des
19. Jahrhunderts spielen „Halluzinationen“ von Geistern eine große, von heutigen
Medizinhistorikern wenig beachtete Rolle. Ausführlich bearbeite ich schließlich
den Fall von Friederike Hauffe aus dem Heilbronner Land (Seherin von Pre-
vorst). Der romantische „poeta minor“ und Arzt Justinus Kerner hat zahlreiche
Geistererfahrungen dokumentiert, die von der schwerkranken Heilpraktikerin
und Seherin produziert und in ihrem großen geisterseherischen und pietistischen
Netzwerk aus Somnambulen und Amulettgäubigen kolportiert wurden. Kerner
war dermaßen ergriffen vom Leben und
Sterben der Seherin, dass er ihren Kult als
medizinisch-künstlerische Protoreligion
betrieb und das Netzwerk der schwäbi-
schen Somnambulie auf die gesamte deut-
sche Romantik ausdehnte.
In anderen Protoreligionen dieser
Art geben nicht nur komplexe Krank-
heitsverläufe und abweichende Wahrneh-
mungsmuster, sondern auch Traumata,
Traumerzählungen, Drogen, körperliche
Übungen, Erfahrungen von Extremkli-
maten und geographischer Isolation den
Anstoß zur geisterkundlichen Poiesis. Der
Neurologe Oliver Sacks kommt in sei-
nem Buch über Halluzinationen zu dem
Schluss, dass etwa 10 % aller Menschen
per se getrieben, getragen oder bedrückt
sind von ungewöhnlichen Wahrneh-
mungen und damit ihre Umgebung in
Erregung versetzen können. Historisch-
spezifische Performanz, Dogma und Li-
teraturen sind untrennbar mit diffusen
und rudimentären religiösen Erfahrungen
Halloween, ca. 2012, Ruhrgebiet: Eine junge
Frau posiert als Nschotschi, indianische Gefährtin
des Old Shatterhand der „Karl May“-Romane
- sie wurde von einem Widersacher des Helden
ermordet.
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und neurobiologisch-experimentelle Anordnungen bereit halten. Hinzu kommt
die Analyse juristischer Praktiken und dynastischer, an königliche Häuser und
royale oder imperiale Familien gebundener Geister-Erzählungen in den Mittel-
altern und Neuzeiten Chinas und Europas. Unter dem Druck der zunehmend
aufgeklärten Öffentlichkeit, das ergeben meine Studien, bahnten sich diese dynas-
tischen und juristischen Geistererzählungen Wege in die weniger ernsten Genres
des frühen Kriminal- und Horror-Romans. Eine Rekonstruktion des Topos der
„Hysterie“ - gegen den Strich dekonstruktiver Lehren der letzten Jahrzehnte ge-
lesen - verstärkt das Bild, dass es bei Geistererfahrungen im Kern um eine rudi-
mentäre Universalie geht. Bei den klassischen Hysterikerinnen der Psychiatrie des
19. Jahrhunderts spielen „Halluzinationen“ von Geistern eine große, von heutigen
Medizinhistorikern wenig beachtete Rolle. Ausführlich bearbeite ich schließlich
den Fall von Friederike Hauffe aus dem Heilbronner Land (Seherin von Pre-
vorst). Der romantische „poeta minor“ und Arzt Justinus Kerner hat zahlreiche
Geistererfahrungen dokumentiert, die von der schwerkranken Heilpraktikerin
und Seherin produziert und in ihrem großen geisterseherischen und pietistischen
Netzwerk aus Somnambulen und Amulettgäubigen kolportiert wurden. Kerner
war dermaßen ergriffen vom Leben und
Sterben der Seherin, dass er ihren Kult als
medizinisch-künstlerische Protoreligion
betrieb und das Netzwerk der schwäbi-
schen Somnambulie auf die gesamte deut-
sche Romantik ausdehnte.
In anderen Protoreligionen dieser
Art geben nicht nur komplexe Krank-
heitsverläufe und abweichende Wahrneh-
mungsmuster, sondern auch Traumata,
Traumerzählungen, Drogen, körperliche
Übungen, Erfahrungen von Extremkli-
maten und geographischer Isolation den
Anstoß zur geisterkundlichen Poiesis. Der
Neurologe Oliver Sacks kommt in sei-
nem Buch über Halluzinationen zu dem
Schluss, dass etwa 10 % aller Menschen
per se getrieben, getragen oder bedrückt
sind von ungewöhnlichen Wahrneh-
mungen und damit ihre Umgebung in
Erregung versetzen können. Historisch-
spezifische Performanz, Dogma und Li-
teraturen sind untrennbar mit diffusen
und rudimentären religiösen Erfahrungen
Halloween, ca. 2012, Ruhrgebiet: Eine junge
Frau posiert als Nschotschi, indianische Gefährtin
des Old Shatterhand der „Karl May“-Romane
- sie wurde von einem Widersacher des Helden
ermordet.
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