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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2014
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Esch, Arnold: Große Geschichte und kleines Leben. Wie Menschen in historischen Quellen zu Wort kommen: Akademievorlesung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0119
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Akademievorlesung von Arnold Esch

der Diplomatie Italien erlebten, das wissen wir bis in den letzten Winkel ihrer
Empfindungen aus Memoiren, Reiseberichten, Briefen. Von all den Namen/osczz,
den Handwerkern auf Gesellenwanderung, den arbeitsuchenden Kellnern, den
auftragslosen Malern, den Vagabunden wissen wir das nicht - warum auch, und
vor allem: welche Quelle sollte das, wenn je geschrieben, dann transportieren?
Einen gewissen Einblick gibt, unverhofft, die Buchführung des Hilfscomites
der deutschen evangelischen Gemeinde in Rom, das Arbeit vermittelte und kleine
finanzielle Hilfe gewährte, fast 6.000 Fälle sind zwischen 1896 und 1903 regist-
riert. Registriert: denn während man im italienischen Kloster nebenan seine Suppe
ohne Rückfrage bekam, musste man hier, gut deutsch, schon für einen bloßen
Essensbon erst einmal Angaben zur Person machen: wie alt, woher, welcher Beruf,
warum nach Italien? Aber umso besser für uns Historiker. Die diskrete caritas des
italienischen Klosters schafft uns keine Quellen, die tut einfach nur Gutes. Aus der
deutschen Ausfragerei aber erfahren wir, wer da alles in großer Zahl nach Italien
kam, ja sie kommen manchmal sogar zu Wort: junge, frisch drauflos wandernde
Gesellen (wobei von einem jungen Bäckergesellen anerkennend gesagt wird, er
habe „Pompeji mit mehr Verständnis angesehen als man ihm zutrauen sollte“).
Aber auch Alte, Resignierte, Gestrandete. „Behauptet, dass in Deutschland jetzt
durch vermehrte Anstellung von Frauen keine Arbeit mehr zu bekommen ist“,
darum nach Italien (manche werden in ihren Aussagen wörtlich zitiert); oder der
arbeitsunfähige Berliner Klempner, der nur noch in der Lage ist, ein Karussell zu
drehen; der ältere herzkranke Gärtner, der nun „mit seinem Kinde, einem Jungen
von neun Jahren, zu Fuß durch Italien zieht“ und Lebensunterhalt sucht; oder der
Schmied aus Chemnitz, „ein Mensch der viel Unglück gehabt hat, dessen Frau im
Irrenhaus sitzt, der selbst aus Kummer darüber planlos in der Welt herum läuft“.
Und weitere Schicksale. „Italienreisende“ sind auch das, aber ganz andere als wir
sie sonst kennen. Diese hier konnten sich nicht leisten, Italien nur mit der Seele zu
suchen. Sie sahen Italien anders, sahen es buchstäblich von unten.
Man könnte unsere Frage, wie gewöhnliche Menschen in historische Über-
lieferung kommen, endlich noch bis in die Gegenwart ausziehen. Zu Worte zu
kommen scheint heute kein Problem mehr, in den social networks kann jeder täglich
hundertfach zu Worte kommen. Man spricht von weltweit täglich (!) 500 Millio-
nen tweets, die nach neuesten Meldungen auch sämtlich archiviert werden und zur
Verfügung stehen sollen. Aber ist das Überlieferung? Wird das Überlieferung?
Wir sprachen von Überlieferung über 200 Jahre, 500 Jahre, nicht über 20 Jahre.
Aber Gedanken machen sollte sich der Historiker auch über künftige Überlie-
ferung. Wie wird man mit diesen Milliarden und Abermilliarden persönlicher
Äußerungen umgehen? (von denen auch nur fünf, wenn aus dem 10. Jahrhundert
überliefert, dem Historiker hochwillkommen wären). Wie wird man dieses Ma-
terial bei der Behandlung großer Themen wie der gegenwärtigen Wirtschaftskrise
oder dem Arabischen Frühling einsetzen wollen? Zwar werden diese Äußerungen

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