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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

DOI Kapitel:
D. Antrittsreden, Nachrufe, Organe, Mitglieder
DOI Kapitel:
I. Antrittsreden
DOI Artikel:
Schwinn, Thomas: Thomas Schwinn: Antrittsrede vom 25. Oktober 2014
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0336
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D. Antrittsreden, Nachrufe, Organe, Mitglieder

den zu können, nirgends ganz zu Hause zu sein, verdankt sich bei mir bestimmten
familialen Konstellationen. Die großen politischen und wirtschaftlichen Umbrü-
che des 20. Jahrhunderts spiegeln sich nicht in der eigenen Biographie, aber in
den Lebensläufen der Familiengenerationen wider. Daraus resultiert ein geringes,
ein gebrochenes familiales Kontinuitätsbewusstsein. Mein Großvater war geprägt
durch zwei Weltkriege mit grauenhaften Erfahrungen und einer Diktatur, mein
Vater erlebt seine formativen Sozialisationsphasen in der Endkriegszeit und den
entbehrungsreichen Nachkriegsjahren. Auch der wirtschaftsstrukturelle Gestalt-
wandel des zurückliegenden Jahrhunderts von einer agrarischen zu einer industri-
ellen und schließlich heute zu einer Dienstleistungsgesellschaft spiegelt sich in den
heterogenen Berufsbiographien und Arbeitserfahrungen über drei Generationen
hinweg in meiner Familie. Als erster, der überhaupt eine akademische Ausbildung
genoss, konnte ich die damit verbundene Erfahrung und Lebenseinstellung nicht
teilen. Für die Frage, woher man kommt, wie man sich selbst definiert und wo es
hingehen soll, habe ich aus einem tradierten Familienbewusstsein und -gedächtnis
keine entsprechende Unterstützung erfahren, es waren keine Maßstäbe oder Ori-
entierungen gesetzt.
Das sind nun keine außergewöhnlichen Bedingungen, sondern massenhaft
verbreitete. Und dennoch studiert nur eine kleine Anzahl von Menschen Sozio-
logie. Solche Lebensbedingungen schaffen aber eine gewisse Disposition, eine
Neigung, nach Antworten, vielleicht sogar Wegen aus solchen Vertrautheitskrisen,
zumindest Erklärungen zu suchen. Ich habe sie in der Wissenschaft gesucht. Inso-
fern ist die Soziologie für mich mehr als eine Tätigkeit, sie war und ist ein integra-
ler Teil meiner Art und Weise, sich im Leben zu orientieren.
Wissenschaftliche Karrieren sind in umfassendere Lebensumstände einge-
bettet, sie entfalten sich aber erst in den wissenschaftlichen Institutionen selbst.
Vorherbestimmt war mein Weg nicht. Noch im Abituijahr hatte ich die Absicht,
Mathematik und Physik zu studieren. Warum es dann doch etwas Anderes wurde,
hatte mit konkreten Personen zu tun, mit denen ich insbesondere während des
Zivildienstes in Kontakt kam. Mit Philosophen, Ethnologen und anderen Geistes-
und Sozialwissenschaftlern, die, bereits im Studium stehend oder mit erreichtem
Abschluss, mir eine Gedankenwelt eröffneten, die mich ungemein ansprach. Die
eigene Disposition, von der bereits die Rede war, und das Deutungsangebot gingen
eine Wahlverwandtschaft ein, die mich, zum Schrecken meiner Eltern, in die Arme
der Soziologie trieb.
Dass es dann doch nicht so schrecklich kam und aus mir etwas „Anständiges“
wurde, verdankt sich wissenschaftsspezifischen Umständen und Personen. Es war
relativ schnell klar, dass mein Interesse der Theorie und nicht der empirischen For-
schung galt - die zwei großen Blöcke meines Faches. Der Beginn meines Studiums
1981 in Heidelberg fiel in eine theoriebegeisterte Phase: Im selben Jahr erschien
Jürgen Habermas4 „Theorie des kommunikativen Handelns“, 1982 „Die feinen Un-

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