II. Wissenschaftliche Vorträge
Eine der ersten Beobachtungen war,
dass die Form der Begrenzung (ob
rund oder eckig) großen Einfluss
darauf hat, welche Zellen sich zu
Anführern entwickeln. Jene Zellen,
die eine Anführerrolle übernehmen,
waren gleichzeitig auch die Zellen,
die aufgrund der Geometrie der
Begrenzung den größten mechani-
schen Spannungen ausgesetzt waren.
Um die extrem kleinen physi-
kalischen Kräfte zwischen Zellen in
der Gruppe zu bestimmen, nutzten
die Wissenschaftler die sogenannte
Zugkraftmikroskopie. Bei diesem
Stationary Migrating
Abb. 1: Fluoreszenz-mikroskopische Aufnahme: rot
markiert den Zellkern, grün markiert das Protein
Merlin. Während im linken Fall die Zellen ruhen und
Merlin in der Membran der Zellen lokalisiert ist, bewe-
gen sich die Zellen rechts und Merlin ist im Zytosol der
Zellen delokalisiert. Der Maßstab in den Abbildungen
entspricht 20 mm.
Verfahren setzen sie Zellgruppen auf eine Geloberfläche mit eingebetteten fluores-
zierenden Mikroperlen. Immer, wenn Zellen sich fortbewegen, üben sie Zugkraft,
sogenannte Traktion - bei Autoreifen spricht man von Bodenhaftung -, auf den
Untergrund aus. Je stärker diese Kraft, umso mehr werden die fluoreszierenden
Perlen aus ihrer Ausgangsposition verschoben, was man über Videomikroskopie
beobachten kann. Die gemessenen Werte nutzten wir, um die zwischen den Zellen
wirkenden mechanischen Kräfte zu berechnen. Das Ergebnis liest sich wie eine Art
Generalkarte sämtlicher Zugkräfte im Kollektiv.
Gleichzeitig nahmen wir verschiedene Proteine ins Visier und schalteten sie
nacheinander molekularbiologisch aus. Dabei wurde klar, dass Zellen ohne ein
funktionierendes Protein namens Merlin - ein Protein welches schon als Krebs-
inhibitor bekannt war - scheinbar orientierungslos und ohne Gruppenwahr-
nehmung umherirrten. Die geordnete Zellmigration kam zum Erliegen und das
Kollektiv verlor sich. Interessanteiweise zeigte sich auch, dass Merlin der einzige
mechano-chemische Koordinator der kollektiven Migration ist. Das erklärt auch
Merlins Rolle als Tumorsuppressor, da einzelne Zellen leichter in Gewebe eintre-
ten können als geordnete Zellgruppen. Ist Merlin erblich defekt, können Tumoren
leichter metastasieren.
Als nächstes verfolgten wir die Verbreitung von Merlinprotein, welches wir
zuvor mit Fluoreszenzfarbstoff angefärbt hatten, während der Zellmigration. Weil
Nachbarzellen im Kollektiv über Kontakte miteinander verbunden sind, ziehen
sie aneinander, wenn sie sich bewegen. Dies bewirkt, dass Merlin seinen Platz in
einem Proteinkomplex an der Zellmembran verlässt, ins Zellinnere diffundiert
und eine Kaskade molekularer Prozesse lostritt. Ohne Merlins hemmende An-
wesenheit ist außerdem Rac 1 (ein anderes Signalmolekül in der Zellmembran)
frei, um zu agieren. Es sorgt dafür, dass sich für die Bewegung wichtige Zell-
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Eine der ersten Beobachtungen war,
dass die Form der Begrenzung (ob
rund oder eckig) großen Einfluss
darauf hat, welche Zellen sich zu
Anführern entwickeln. Jene Zellen,
die eine Anführerrolle übernehmen,
waren gleichzeitig auch die Zellen,
die aufgrund der Geometrie der
Begrenzung den größten mechani-
schen Spannungen ausgesetzt waren.
Um die extrem kleinen physi-
kalischen Kräfte zwischen Zellen in
der Gruppe zu bestimmen, nutzten
die Wissenschaftler die sogenannte
Zugkraftmikroskopie. Bei diesem
Stationary Migrating
Abb. 1: Fluoreszenz-mikroskopische Aufnahme: rot
markiert den Zellkern, grün markiert das Protein
Merlin. Während im linken Fall die Zellen ruhen und
Merlin in der Membran der Zellen lokalisiert ist, bewe-
gen sich die Zellen rechts und Merlin ist im Zytosol der
Zellen delokalisiert. Der Maßstab in den Abbildungen
entspricht 20 mm.
Verfahren setzen sie Zellgruppen auf eine Geloberfläche mit eingebetteten fluores-
zierenden Mikroperlen. Immer, wenn Zellen sich fortbewegen, üben sie Zugkraft,
sogenannte Traktion - bei Autoreifen spricht man von Bodenhaftung -, auf den
Untergrund aus. Je stärker diese Kraft, umso mehr werden die fluoreszierenden
Perlen aus ihrer Ausgangsposition verschoben, was man über Videomikroskopie
beobachten kann. Die gemessenen Werte nutzten wir, um die zwischen den Zellen
wirkenden mechanischen Kräfte zu berechnen. Das Ergebnis liest sich wie eine Art
Generalkarte sämtlicher Zugkräfte im Kollektiv.
Gleichzeitig nahmen wir verschiedene Proteine ins Visier und schalteten sie
nacheinander molekularbiologisch aus. Dabei wurde klar, dass Zellen ohne ein
funktionierendes Protein namens Merlin - ein Protein welches schon als Krebs-
inhibitor bekannt war - scheinbar orientierungslos und ohne Gruppenwahr-
nehmung umherirrten. Die geordnete Zellmigration kam zum Erliegen und das
Kollektiv verlor sich. Interessanteiweise zeigte sich auch, dass Merlin der einzige
mechano-chemische Koordinator der kollektiven Migration ist. Das erklärt auch
Merlins Rolle als Tumorsuppressor, da einzelne Zellen leichter in Gewebe eintre-
ten können als geordnete Zellgruppen. Ist Merlin erblich defekt, können Tumoren
leichter metastasieren.
Als nächstes verfolgten wir die Verbreitung von Merlinprotein, welches wir
zuvor mit Fluoreszenzfarbstoff angefärbt hatten, während der Zellmigration. Weil
Nachbarzellen im Kollektiv über Kontakte miteinander verbunden sind, ziehen
sie aneinander, wenn sie sich bewegen. Dies bewirkt, dass Merlin seinen Platz in
einem Proteinkomplex an der Zellmembran verlässt, ins Zellinnere diffundiert
und eine Kaskade molekularer Prozesse lostritt. Ohne Merlins hemmende An-
wesenheit ist außerdem Rac 1 (ein anderes Signalmolekül in der Zellmembran)
frei, um zu agieren. Es sorgt dafür, dass sich für die Bewegung wichtige Zell-
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