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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2002 — 2003

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I. Das Geschäftsjahr 2002
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Raible, Wolfgang: Eugenio Coseriu (27.7.1921 - 7.9.2002)
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schäft, die das Sprechen zum Gegenstand hat, d. h. die menschliche Sprechfähigkeit;
einer Sprachwissenschaft, der es um historische Einzelsprachen geht; und einer
Sprachwissenschaft, deren Gegenstand Texte oder Diskurse sind. Eine weitere distinc-
tio ist die Unterscheidung zwischen dem ‘System’ als dem Raum dessen, was mög-
lich ist (auf der Ebene des Systems ist ‘Sprache’ eine geregelte Kombinatorik), der
‘Norm’ als der Teilmenge aus den Möglichkeiten, die die Sprechergemeinschaft einer
historischen Sprache zulässt, und der ‘Rede’, der praktischen Realisierung (Sistema,
norma y habla, 1952). Genannt sei auch die Klärung des für den Strukturalismus und
seine Opponenten so wichtigen Verhältnisses zwischen den Größen Synchronie,
Diachronie und Geschichte: Die Synchronie einer Sprache ist nie eine Momentauf-
nahme, sondern die Ko-präsenz von dem, was sprachlich noch Gültigkeit hat (meist
einem hohen Stilniveau zugehörig), dem, was aktuell ist und dem, was demnächst die
Norm sein wird (was heute aber noch als stilistisch niedrig gilt). Diese dynamische
Konzeption der Synchronie und das scheinbare Paradox, dass Sprachen sich wandeln,
weil wir sprechen und weil Kreativität zu den essentiellen Universalien von Sprache
gehört, haben Aporien der strukturalistischen Diskussion beseitigt (Sincronia, diacronia
e historia, 1958) und den engen sprachwissenschaftlichen Strukturalismus überwun-
den. Genannt sei schließlich noch die Unterscheidung zwischen sprachlicher Varia-
tion nach dem Ort (diatopisch), nach der Sprecherschicht (diastratisch) und nach
dem Redeanlass (diaphasisch) und deren Kombination zu einer Zeit, als in Deutsch-
land im Rahmen einer kruden marxistischen zwei-Schichten-Lehre nur von einem
elaborierten und restringierten Code die Rede war.
Da die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen bleiben kann, hatte
Anfang der 60er Jahre Coserius Ruhm Nordamerika und Europa erreicht. Vermittelt
durch den Bonner Romanisten Harri Meier war er zwischen 1961 und 1963 drei
Semester als Gastprofessor in Bonn und Frankfurt. Im Mai 1963 nahm er dann eine
Professur für Romanische Philologie in Tübingen an, aus der 1966 eine Professur für
romanische Philologie und allgemeine Sprachwissenschaft wurde. Der nunmehrige
Sprachwissenschaftler Coseriu, der aus einem Kontinent kam, den Deutsche, hoch-
mütig, gerne als weniger entwickelt wahrnahmen und wahrnehmen, traf auf eine
Situation, in der Entwicklungshilfe dringend nötig war. Zwischen den beiden Welt-
kriegen hatte der Strukturalismus Saussurescher Prägung in Deutschland kaum Fuß
fassen können. Mit den romanistischen Lausberg-Schülern Helmut Lüdtke und
Harald Weinrich, dem Romanisten Wolf-Dieter Stempel, dem Schweizer Hansjakob
Seiler, dem Anglisten Herbert Pilch und dem Germanisten Hugo Steger, alle um 1925
geboren, bildete Coseriu die Speerspitze der Bewegung für eine Sprachwissenschaft,
mit der die Vertreter einer nur historisch ausgerichteten Sprachwissenschaft, die in
Deutschland fast uneingeschränkt herrschte, wenig anzufangen wussten.
Das Interesse der Studierenden war umso größer. Sie liefen in Scharen zu dieser
neuen Linguistik über. Auch in den Jahren um 1968, die für viele akademische Lehrer
so traumatisch waren, hatte Coseriu nie Schwierigkeiten: Er bot den aufmüpfigen
Studenten mit einem lauernden Unterton stets an, mit ihnen über Marx, Engels,
Hegel, oder über den dialektischen Materialismus schlechthin zu diskutieren -
wobei die Angesprochenen aus der Kenntnis der Person sehr wohl wussten, dass
 
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