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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2014
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Esch, Arnold: Große Geschichte und kleines Leben. Wie Menschen in historischen Quellen zu Wort kommen: Akademievorlesung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0116
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III. Veranstaltungen

historischen Erheblichkeit eines Menschen, sondern ob er die Gebote halte, die
nach ihrer Vorstellung zur Erlangung des Seelenheils notwendig waren.
Da man in dieser Quelle Menschen auf historische Ereignisse ihrer Zeit Be-
zug nehmen sieht, könnte man weiter fragen: Lassen sich, aus historischen Quel-
len, auch Fälle gewinnen, in denen Menschen (nicht Chronisten, Humanisten
und andere professionelle Historiker damals, sondern einfache Menschen, wie wir
ihnen hier auf der Spur sind) durch Bezugnahme auf historische Ereignisse ein
Datum, einen Zeithorizont setzen und somit zu erkennen geben, was sie als Ereig-
nisse ansehen, die auch den Mitmenschen allgemein bekannt sein dürften? Etwa
wenn sie in einer Zeugenvernehmung aufgefordert werden, ihre Erinnerung (an
Verbrechen, an Grenzziehungen, an Wunderheilungen) genau zu datieren - oder
überhaupt erst einmal ihr eigenes Lebensalter anzugeben, denn danach werden sie
eingangs gefragt, weil daran die Reichweite ihrer möglichen Erinnerung gemessen
wird.
Schon die Angabe des Alters ist mühsam und erfolgt meistens in abgerun-
deten Zahlen: wenn man in den Steuererklärungen des Florentiner Catasto von
1427 den Lebensalterangaben glauben wollte, dann hätte es damals in der Toskana
11.200 Vierzigjährige, aber nur 253 Einundvierzigjährige gegeben! Und so kramen
sie, zu genauerer Datierung von Vorfällen aufgefordert, zunächst umständlich in
erinnerten Episoden des eigenen Lebens („als ich dort das Fuder Getreide abholen
musste, denn es war die vorletzte Missernte“; „als der neue Priester in unser Dorf
kam“, und ähnliche Anhaltspunkte für die Datierung). Um dann aus der relativen
Chronologie des eigenen Lebens, oder aus den Zyklen des agrarischen Kalenders
mit seiner ewigen Wiederkehr gleicher Verrichtungen, womöglich hinauszufinden
in die absolute Chronologie der großen, datierbaren Ereignisse.
Da hören wir dann, auf welche „historischen“ Daten sie sich untereinander
und mit dem Gericht verständigen konnten (und gewissermaßen auch mit uns,
den Historikern): „sah ich, wie Papst Eugen III. vorbeizog“ (das war 1147); „als der
Kaiser Arezzo zerstörte“ (das war 1111). Man verstehe bitte recht: Ich will nicht -
wie man das Vorgehen des Historikers oft versteht - aus der Quelle erfahren, dass
da der Papst vorbeigezogen ist, sondern umgekehrt: welches historische Ereignis
sich diesem Mann so eingebrannt hat, dass er es noch Jahre, Jahrzehnte später
erinnert und sozusagen als link zwischen seinem kleinen Leben und der großen
Geschichte erkennen lässt. Denn wir sollten nicht nur Fakten, sondern auch Men-
schen rekonstruieren.
Ein anderes Beispiel: Auch die Rückkehr der Päpste von Avignon nach Rom
eiweist sich als solch ein Datum, das noch nach Jahrzehnten erinnert und zur
Datierung ganz persönlicher Ereignisse herangezogen wird („Ich verlobte mich,
als Papst Urban V nach Rom zurückkehrte“), so breit wusste man das in Rom in
aller Bewusstsein. Und natürlich, aufs Jahr genau erinnerter Bezugspunkt in ganz
Europa, die große Pest von 1348. Und andere, kleinere Datenhorizonte, die vom

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