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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

DOI chapter:
D. Antrittsreden, Nachrufe, Organe, Mitglieder
DOI chapter:
I. Antrittsreden
DOI article:
Schwinn, Thomas: Thomas Schwinn: Antrittsrede vom 25. Oktober 2014
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0335
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Antrittsrede von Thomas Schwinn

Thomas Schwinn
Antrittsrede vom 25. Oktober 2014

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr verehrte Damen und Herren,
über die Aufnahme in die Heidelberger Akademie
der Wissenschaften habe ich mich sehr gefreut. Das
ist eine große Ehre, und für das in mich gesetzte
Vertrauen bedanke ich mich ganz besonders bei den
Mitgliedern.
Den eigenen wissenschaftlichen Werdegang
biographisch zu reflektieren, ist ein ungewohntes
Unterfangen. Die Antriebe und Motive sind einem
selbst ja nie gänzlich präsent und durchsichtig, und
ein Lebenslauf weist immer ein mehr oder weniger
großes Maß an nicht intendiertem Ablauf, an Zufällen und Kontingenzen auf.
Nun gibt es allerdings in meinem Fach, der Soziologie, durchaus mehrere Beispie-
le für z. T. sehr umfangreiche wissenschaftliche Autobiographien, keine allerdings
in der jüngeren Forschergeneration - mir ist keine bekannt. Typisch sind sie für
jene Generation, die durch den Nationalsozialismus geprägt wurden. Die gesell-
schaftlichen Brüche und Katastrophen wurden als biographisch außerordentlich
einschneidende Ereignisse reflektiert und daraus die Motive für die eigenen wis-
senschaftlichen Anstrengungen entfaltet. Das hat eine hohe Plausibilität.
Als Angehöriger der sogenannten Baby-Boomer-Kohorten könnte der Kon-
trast zu den vorangehenden Generationen nicht größer sein. Gesellschaftliche
Brüche, wie die NS-Zeit, die biographisch verarbeitet werden mussten, gibt es in
meinem Lebenslauf nicht. Aufgewachsen unter historisch einmaligen, kontinuier-
lich stabilen politisch-demokratischen Verhältnissen, wirtschaftlichem Wohlstand,
Bildungsexpansion und wohlfahrtsstaatlichen Absicherungen ist keine unmittel-
bare Notwendigkeit erkennbar, über die gesellschaftlichen Bedingungen des eige-
nen Lebens nachzudenken.
Wie kommt man dann aber doch zur Soziologie? Schaut man in die Biographi-
en der älteren Generationen von Sozialwissenschaftlern, so fällt eine gemeinsame
wiederkehrende Wort- und Begriffswahl auf. Es ist vom Leben im Widerspruch,
Krisen der Zugehörigkeit, Generationskonflikten die Rede. Reinhard Bendix, der
vor den Nazis in die USA emigrieren musste, spricht davon, dass er nirgends mehr
ganz zu Hause sein konnte. Nun will ich mein doch relativ undramatisches Leben
nicht mit dem der Migranten gleichsetzen, aber die Wortwahl spricht mich un-
mittelbar an, trifft ein Gefühl, dass auch für meinen Weg in die Wissenschaft nicht
unwichtig war. Der Eindruck, keine volle Zugehörigkeit zu erfahren und empfin-


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