Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2014 — 2015

DOI Kapitel:
D. Antrittsreden, Nachrufe, Organe, Mitglieder
DOI Kapitel:
II. Nachrufe
DOI Artikel:
Schluchter, Wolfgang: M. Rainer Lepsius (8. 5.1928 – 2.10.2014)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55654#0350
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
D. Antrittsreden, Nachrufe, Organe, Mitglieder

Ein Beispiel für diese Wirkung ist sein inzwischen klassischer Aufsatz „Das
Modell der charismatischen Herrschaft und seine Anwendbarkeit auf den »Füh-
rerstaat« Adolf Hitlers“. Noch jüngst trug er den darin entwickelten Gedanken
einem faszinierten jungen studentischen Publikum frei und mit stupender histo-
rischer Faktenkenntnis vor. Der ebenfalls vor kurzem verstorbene Hans-Ulrich
Wehler, selbst eher ein Autor der großen Form, bemerkte einmal, lese man die-
sen Aufsatz, so würden ganze Bibliotheken zu Makulatur werden. Das ist gewiss
übertrieben, doch ein Körnchen Wahrheit steckt in dieser Aussage schon. Lepsius
lässt sich dabei eben nicht auf das übliche oberflächliche „Labeling“ ein, sondern
entfaltet das Charismakonzept analytisch und stellt es in den Zusammenhang tra-
ditionaler und legaler Herrschaft. Weder die Machtergreifung noch die Macht-
konsolidierung Hitlers lasse sich ohne die „Beigaben“ traditionaler und legaler
Herrschaft verstehen. Lepsius gibt damit der einst von Ernst Fraenkel vorgetrage-
nen These vom Dritten Reich als einem Doppelstaat, einem Nebeneinander von
Normenstaat und Maßnahmestaat, eine soziologisch einleuchtende Deutung und
zeigt dabei zugleich, wie fruchtbar der Rückgriff auf die Idealtypen Max Webers
für das Verständnis komplexer historischer Zusammenhänge sein kann. Zugleich
behandelt Lepsius hier eine seiner zentralen Fragen: die nach dem Verhältnis von
Kontinuität und Diskontinuität im historischen Verlauf.
Der Nationalsozialismus war für ihn freilich nicht allein ein Gegenstand der
Analyse, sondern auch eine prägende persönliche Erfahrung. Am 8. Mai 1928 ge-
boren, gehörte er zur sogenannten Flakhelfergeneration. Der 8. Mai 1945, sein 17.
Geburtstag, der Tag der Kapitulation, war für ihn ein Tag der Befreiung. In einem
autobiographischen Rückblick bemerkte er, dieser Tag habe ihn „von Schicksals-
mächten4, von unkontrollierbarer Gewalt, von Nibelungenmythen, allgemeiner
gesagt: von ontologischen Kollektivitäten“ befreit. Im Kampf gegen die Ontolo-
gisierung von Kollektivitäten wusste er sich mit Max Weber einig. Dieser Kampf
führte ihn, nach einem Studium der Volkswirtschaftlehre und der Rechtswissen-
schaft, wobei er letzteres dann abbrach, schließlich zur Soziologie. Die wichtigsten
Stationen waren, nach der Münchner Studienzeit, Köln (Rene König), die London
School of Economics, schließlich die USA, und hier nicht Talcott Parsons, sondern
Robert K. Merton. Er strebte nicht nach der großen Theorie, sondern nach der
Theorie mittlerer Reichweite, nicht nach dem umfassenden System, sondern nach
der historisch gesättigten Analyse des Falls.
Wenn man die drei Bände, in denen seine wichtigsten Aufsätze versammelt
sind, Revue passieren lässt - „Interessen, Ideen und Institutionen“ (1. Aufl. 1990,
2. Aufl. 2009), „Demokratie in Deutschland“ (1993), „Institutionalisierung politi-
schen Handelns“ (2013) -, so sind die für ihn zentralen Analyseobjekte leicht zu
erkennen: das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die Bundes-
republik Deutschland, die DDR, die Europäische Union, natürlich nicht als Ganz-
heiten, sondern als Konstellationen von Ideen, Interessen und Institutionen, die

352
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften