II. Wissenschaftliche Vorträge
Kielmanseggs politisches Denken vollzieht sich denn auch im Modus einer be-
hutsamen Suchbewegung, seine Argumentationsgänge sind stets Gratwanderun-
gen auf schwierigem Gelände. Von daher rührt die große Gabe Graf Kielmanseggs
zu gründlicher Abwägung; er versteht es wie kein anderer, aus der Auseinander-
setzung mit den politischen Fragen und Problemen unserer Zeit eine gelehrte
Übung in Nachdenklichkeit zu machen.
Am Ende des Locke-Seminars fragte Graf Kielmansegg, warum die politi-
sche Philosophie des Gesellschaftsvertrages auch im 20. Jahrhundert anschlussfä-
hig sei. Meine Antwort lautete damals: Der Gesellschaftsvertrag mit dem fiktiven
Naturzustand sei ein Gedankenexperiment, das man mit unterschiedlichen nor-
mativen Inhalten ausfüllen könne; es sei eben ein Spiel mit dem Wünschbaren,
das nicht viel koste und an dem viele teilnehmen könnten. Graf Kielmansegg
reagierte darauf - wie gewohnt - pädagogisch großzügig: er sagte ja - und dehnte
dabei das „jaaa“ so weit, dass es beinahe umschlug in ein „nein“, er sagte aber nie
„nein“ - auch dies dürfte eine Rolle spielen. Nach einigem Herumstochern im
Nebel verriet er uns, worauf er hinauswollte; es sei doch letztlich die elementa-
re Prämisse, dass das Individuum frei und gleich geboren sei, von der bis heute
unsere Überlegungen über eine legitime politische Ordnung ihren Ausgang näh-
men. Wir sprachen dann noch eine Weile über den Wahrheitsgehalt bzw. den Er-
kenntniswert dieser Prämisse, die bei allem Fortschritt seit Locke und Rousseau
immer noch mehr Hoffnung als gelebte Erfahrung ist, aber eben gerade aus der
Spannung zwischen dem normativen Geltungsanspruch und der hinter ihr hin-
kenden Realität ihre Wirkungsmacht bezieht.
Was Locke angeht, will ich nur noch eines erwähnen: Im Wintersemester
2015/16 habe ich an der Humboldt-Universität zu Berlin am Lehrstuhl von Prof.
Herfried Münkler - der ja dankenswerteiweise unter uns ist und inzwischen mein
zweiter Lehrer geworden ist, wenn ich das noch hinzufügen darf - ebenfalls ein
Seminar zu John Lockes politischer Theorie durchgeführt. Ich habe mich mit
Dankbarkeit an das Seminar von Graf Kielmansegg erinnert, von dem ich viele
Anregungen erhalten habe und so manche davon hoffentlich auch weitergeben
konnte. Bei der Erstellung des Seminarplans habe ich lediglich an wenigen Stellen
Ergänzungen vorgenommen; zwei Sitzungen widmete ich dem Thema Religion,
eine dem Zusammenhang zwischen politischer Theorie und historischer Praxis
und schließlich eine weitere der Rezeptionsgeschichte in den USA und in Europa.
Irgendwann dämmerte mir, dass die politische Philosophie des Gesellschaftsver-
trages vor allem von protestantischen Autoren geschrieben worden ist - von Hob-
bes und Locke über Rousseau und Kant bis hin zu John Rawls. Ich bezweifele, dass
dies nur dem Zufall geschuldet sein könnte und nehme an, dass die grundlegende
Prämisse von der gleichen Freiheit des Individuums und zudem auch das Problem
der Rechtfertigung in der protestantischen Tradition vergleichsweise eine größere
Bedeutung und Plausibilität hatte. Im Übrigen vermute ich, dass dieser Umstand
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Kielmanseggs politisches Denken vollzieht sich denn auch im Modus einer be-
hutsamen Suchbewegung, seine Argumentationsgänge sind stets Gratwanderun-
gen auf schwierigem Gelände. Von daher rührt die große Gabe Graf Kielmanseggs
zu gründlicher Abwägung; er versteht es wie kein anderer, aus der Auseinander-
setzung mit den politischen Fragen und Problemen unserer Zeit eine gelehrte
Übung in Nachdenklichkeit zu machen.
Am Ende des Locke-Seminars fragte Graf Kielmansegg, warum die politi-
sche Philosophie des Gesellschaftsvertrages auch im 20. Jahrhundert anschlussfä-
hig sei. Meine Antwort lautete damals: Der Gesellschaftsvertrag mit dem fiktiven
Naturzustand sei ein Gedankenexperiment, das man mit unterschiedlichen nor-
mativen Inhalten ausfüllen könne; es sei eben ein Spiel mit dem Wünschbaren,
das nicht viel koste und an dem viele teilnehmen könnten. Graf Kielmansegg
reagierte darauf - wie gewohnt - pädagogisch großzügig: er sagte ja - und dehnte
dabei das „jaaa“ so weit, dass es beinahe umschlug in ein „nein“, er sagte aber nie
„nein“ - auch dies dürfte eine Rolle spielen. Nach einigem Herumstochern im
Nebel verriet er uns, worauf er hinauswollte; es sei doch letztlich die elementa-
re Prämisse, dass das Individuum frei und gleich geboren sei, von der bis heute
unsere Überlegungen über eine legitime politische Ordnung ihren Ausgang näh-
men. Wir sprachen dann noch eine Weile über den Wahrheitsgehalt bzw. den Er-
kenntniswert dieser Prämisse, die bei allem Fortschritt seit Locke und Rousseau
immer noch mehr Hoffnung als gelebte Erfahrung ist, aber eben gerade aus der
Spannung zwischen dem normativen Geltungsanspruch und der hinter ihr hin-
kenden Realität ihre Wirkungsmacht bezieht.
Was Locke angeht, will ich nur noch eines erwähnen: Im Wintersemester
2015/16 habe ich an der Humboldt-Universität zu Berlin am Lehrstuhl von Prof.
Herfried Münkler - der ja dankenswerteiweise unter uns ist und inzwischen mein
zweiter Lehrer geworden ist, wenn ich das noch hinzufügen darf - ebenfalls ein
Seminar zu John Lockes politischer Theorie durchgeführt. Ich habe mich mit
Dankbarkeit an das Seminar von Graf Kielmansegg erinnert, von dem ich viele
Anregungen erhalten habe und so manche davon hoffentlich auch weitergeben
konnte. Bei der Erstellung des Seminarplans habe ich lediglich an wenigen Stellen
Ergänzungen vorgenommen; zwei Sitzungen widmete ich dem Thema Religion,
eine dem Zusammenhang zwischen politischer Theorie und historischer Praxis
und schließlich eine weitere der Rezeptionsgeschichte in den USA und in Europa.
Irgendwann dämmerte mir, dass die politische Philosophie des Gesellschaftsver-
trages vor allem von protestantischen Autoren geschrieben worden ist - von Hob-
bes und Locke über Rousseau und Kant bis hin zu John Rawls. Ich bezweifele, dass
dies nur dem Zufall geschuldet sein könnte und nehme an, dass die grundlegende
Prämisse von der gleichen Freiheit des Individuums und zudem auch das Problem
der Rechtfertigung in der protestantischen Tradition vergleichsweise eine größere
Bedeutung und Plausibilität hatte. Im Übrigen vermute ich, dass dieser Umstand
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