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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

DOI chapter:
A. Das akademische Jahr 2022
DOI chapter:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI article:
Tertilt, Michele: Katalysator oder Karrierebremse – Wie verändert sich die Arbeitswelt von Frauen durch die Coronakrise?
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0063
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Michele Tertilt

In regulären Wirtschaftskrisen kann das Arbeitsangebot der Frauen in vielen
Familien Einkommensschocks abfedern. Wenn der Mann seinen Arbeitsplatz ver-
liert, kann seine Frau entweder ihr Arbeitsangebot erhöhen oder sich möglicher-
weise einen Job suchen, was das Familieneinkommen in einer Wirtschaftskrise
stabilisiert. Dieser Versicherungsmechanismus hilft Familien, Einkommensver-
luste zu kompensieren, und führt zu einer geringeren Übertragung von Einkom-
mensschocks auf die Konsumnachfrage (Bardöczy 2021). In einer pandemischen
Rezession ist der Spielraum für diese Versicherung innerhalb der Familie stark
eingeschränkt. Viele Frauen, die sonst für diese Versicherung sorgen würden, sind
nun selbst arbeitslos. Außerdem sind Familien mit Kindern in Zeiten geschlosse-
ner Schulen in ihrer Reaktion auf Schocks wenig flexibel, weil ein Großteil ihrer
Zeit durch die Kinderbetreuung in Anspruch genommen wird.
Diese Ergebnisse unterstreichen, dass die großen Beschäftigungsverluste von
Frauen für die grundlegende makroökonomische Beschaffenheit einer pandemi-
schen Rezession bedeutend sind - sowohl für die Rezession selbst als auch für
die nachfolgende wirtschaftliche Erholung. Auch hat dies Implikationen für die
Wirtschaftspolitik. Die erhöhte marginale Konsumneigung macht Fiskalpolitik
besonders wirksam. In der Tat haben die meisten wohlhabenden Länder extrem
große Konjunkturprogramme aufgelegt — vom amerikanischen GARES Act über
den europäischen Covid-19 Recovery Fund bis hin zur deutlichen Ausweitung der
Kurzarbeit in Deutschland5. Diese Programme haben sicherlich mit dazu beigetra-
gen, dass sich in den meisten Ländern kein großer Nachfragerückgang eingestellt
hat und dass sich der anfängliche Schock eben nicht in der ganzen Wirtschaft aus-
gebreitet hat.
Es gibt jedoch auch Mechanismen, die in die entgegengesetzte Richtung deu-
ten und vermuten ließen, dass eine Shecession zu geringeren Wohlfahrtsverlusten
als eine Mancession führen würde. Erstens arbeiten Frauen im Durchschnitt we-
niger Stunden als Männer, so dass die gleiche Anzahl an Jobverlusten zu einem
geringeren aggregierten Arbcitsstundenverlust führt. Zweitens verdienen Frau-
en im Durchschnitt weniger als Männer, so dass derselbe Stundenverlust zu ei-
ner geringeren Reduzierung des Bruttosozialprodukts führt. Drittens könnte es
sein, dass Frauen eine bessere alternative Verwendung für ihre Zeit haben, so dass
„Home Production“ steigt, wenn Frauen ihre Jobs verlieren, während bei männ-
lichem Jobverlust eher beispielsweise der Konsum an Videospielen steigt (Aguiar
et al 2020). Viertens kommt es typischerweise in Rezessionen zu mehr häuslicher
Gewalt (Siflinger et al 2022). Man könnte nun vermuten, dass dies in Shecessions

5 Der Coronavirus Aid, Relief, and Economic Security (GARES) Act ist ein mehr als zwei Bil-
lionen Dollar schweres Finanzpaket, das der amerikanische Kongress am 25. März 2020 ver-
abschiedet hat. Die Europäische Union hat am 21. Juli 2020 den Covid-19 Recovery Plan in
Höhe von 750 Milliarden Euro beschlossen.

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