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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2022
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Gerok-Reiter, Annette: Wozu brauchen wir eine ,Andere Ästhetik‘?
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0094
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II. Wissenschaftliche Vorträge

Die heuristische Chance des Ansatzes bei vormodernen ästhetischen Akten
und Artefakten liegt dabei darin, dass diese häufig und besonders offensichtlich
in gesellschaftliche Handlungsvollzüge, soziopolitische Interessen oder religiöse
Praktiken eingebunden sind und sich - ihrem eigenen Selbstverständnis nach -
nachdrücklich von dieser Eingebundenheit aus rechtfertigen. So erheben sie zwar
durchaus den Anspruch artifizieller Eigenlogik, nicht jedoch den Anspruch der
Autonomie. Wurde die fehlende Autonomie in der Forschung jahrzehntelang als
Defizit verstanden, so ist ebendies nun in einem epistemischen Perspektivwechsel
umgekehrt als Potential in den Blick zu rücken und aufzuarbeiten. Dies gilt umso
mehr, als bei der Suche nach einer solchen ,anderen4 Ästhetik auch Quellen- und
Gegenstandsbereiche, ästhetische Praktiken und Manifestationen außerhalb einer
ausgewiesenen Artifizialität mitzuberücksichtigen sind, somit Bereiche, in denen
sich ästhetische Fragestellungen und ihr Differenzpotential eher randständig her-
auskristallisieren, z. B. in Fachtexten, Gebrauchsgegenständen, angewandter Kunst
oder religiöser Didaxe. Insbesondere durch den Einbezug auch scheinbar unspek-
takulärer Gegenstandsbereiche im Kontext ganz anderer als Ästhetischer4 Anliegen
lassen sich Kriterien des Ästhetischen in einer historisch komplexeren Perspektive
erfassen, als dies bisher möglich war.
Um ästhetischen Akten und Artefakten, die - wie die vormodernen - in be-
sonders engen Referenzbeziehungen zur Lebenswelt stehen, analytisch gerecht
werden zu können, hat der SFB ein praxeologisches Analysemodell entworfen:
Dieses geht von dem Verständnis aus, dass ästhetische Akte und Artefakte immer
zugleich an der Dimension des Autologischen auf der einen, der des Heterologi-
schen auf der anderen Seite partizipieren, wenn auch der einen oder der anderen
Dimension unterschiedliche Gewichtung zukommen kann. Unter der autologi-
schen Dimension wird der Aspektbereich des in der jeweiligen Zeit zur Verfügung
stehenden Form- und Gestaltungswissens im Sinn von technical skills verstanden,
für den in der Tradition des klassischen rhetorischen Regelwissens und der Poetik
der Begriff ars steht. Ihm gehören nicht nur die expliziten Kunstlehren (Poetiken,
Rhetoriken, Proportionslehren etc.) an, sondern der gesamte Fundus vorgängiger
oder impliziter Regeln, Modelle, Topikcn und Traditionen, die als praktisch-tech-
nischer Bezugspunkt der Produktion zu denken sind. Die heterologische Dimen-
sion ist dagegen auf Fragen der pragmatischen Ziel- und Zweckbestimmung, des
sozialen Umfeldes und der gesellschaftlichen Kontexte bezogen. Sie betrifft so-
wohl die Bezüge von Akten und Artefakten auf,andere4 Diskurse und Wissens-
felder (z.B. Theologie, Politik, Ethik usw.) als auch deren konkrete Einbettung
und Performanz in die soziale Praxis. Entscheidend ist dabei die grundsätzliche
Durchlässigkeit und Wechselwirkung beider Dimensionen. In dieser Offenheit
der Partizipation an den Dimensionen, bei der es zu ständigen Verschiebungs-,
Ubersetzungs- und Transformationsprozessen kommt, liegt die Dynamik des
Modells begründet. Das Modell bietet damit die Chance, die mit der Opposition

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