Reuchlinpreis
Aus diesem Mathnavi möchte ich Ihnen eine Geschichte vortragen:
Im finstern Hause war der Elefant,
wo von den Indern ausgestellt er stand.
Und viele Leute kamen, ihn zu sehen -
sie alle mussten in das Dunkel gehen.
Da sie ihn in der Dunkelheit nicht sahen,
berührten sie ihn nur mit ihren Händen.
Der, dessen Hand an seinen Rüssel rührte,
sprach: «Wie eine Regenrinne ist er wohl!»
Der, dessen Hand an seine Ohren traf,
rief: «Wie ein Fächer sieht das Wesen aus!»
Der, dessen Hand berührte nur sein Bein,
sprach: «Wie ein Pfeiler wird das Tier wohl sein.»
Der, dessen Hand den Rücken rührte schon,
sprach: «Sicherlich, er ist gleichwie ein Thron.»
So kam ein jeder nur zu einem Teil
und er verstand nur dies, und nicht das Ganze...
Der eine hielt den Elefanten also für eine Regenrinne, der andere für eine Säule,
der dritte für einen Thron. So unterschiedlich ist die Erkenntnis des einen selben
Dings. Unsere Kenntnis der Wahrheit - symbolisiert durch den Elefanten - ist
bruchstückhaft. Wir alle halten einen Teil der Wahrheit in unserer Hand und nie-
mand hat sie ganz. Zu sehen, dass unser Wissen so defizitär ist, sollte uns demüti-
ger machen. Und Toleranz, Offenheit für Pluralität und Dialog sind nichts anderes
als die Früchte des Baums der Demut - Demut also: Das ist die wichtigste Lehre,
die man aus dem Gedicht ziehen sollte. Und ich würde tippen: Das wäre im Sinne
Reuchlins.
Dieses Gleichnis lässt sich - so habe ich es immer meinen Studentinnen und
Studenten nahegelegt - besonders gut im Schulunterricht einsetzen. Ich habe bis
2018 in Hamburg an der Universität, an der Akademie für Weltreligionen ge-
lehrt, wo wir Studierende als Lehrende im sogenannten Religionsunterricht für
alle ausgebildet haben. Das ist das spezifische Hamburger Modell eines Religi-
onsunterrichts, das ich wirklich für eine gute Idee halte. Es sieht vor, dass Kinder
aller Religionen in einem Unterricht, in einem Raum zusammensitzen und von
Lehrenden aller Religionen in allen Religionen unterrichtet werden. Das ist keine
Idee, die erst vor kurzem entstanden wäre, sondern wird tatsächlich schon seit
vielen Jahrzehnten in Hamburg praktiziert. Mit dem Ergebnis übrigens, dass deut-
lich weniger Kinder Reli abwählen als in anderen Bundesländern. In Hamburg
bleiben die Kinder viel eher dabei, weil es eben deutlich interessanter ist, sich mit
Angehörigen anderer Religionen über deren Religionen auszutauschen als nur mit
den Angehörigen der eigenen Religion über die eigene. Mir scheint das jedenfalls
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Aus diesem Mathnavi möchte ich Ihnen eine Geschichte vortragen:
Im finstern Hause war der Elefant,
wo von den Indern ausgestellt er stand.
Und viele Leute kamen, ihn zu sehen -
sie alle mussten in das Dunkel gehen.
Da sie ihn in der Dunkelheit nicht sahen,
berührten sie ihn nur mit ihren Händen.
Der, dessen Hand an seinen Rüssel rührte,
sprach: «Wie eine Regenrinne ist er wohl!»
Der, dessen Hand an seine Ohren traf,
rief: «Wie ein Fächer sieht das Wesen aus!»
Der, dessen Hand berührte nur sein Bein,
sprach: «Wie ein Pfeiler wird das Tier wohl sein.»
Der, dessen Hand den Rücken rührte schon,
sprach: «Sicherlich, er ist gleichwie ein Thron.»
So kam ein jeder nur zu einem Teil
und er verstand nur dies, und nicht das Ganze...
Der eine hielt den Elefanten also für eine Regenrinne, der andere für eine Säule,
der dritte für einen Thron. So unterschiedlich ist die Erkenntnis des einen selben
Dings. Unsere Kenntnis der Wahrheit - symbolisiert durch den Elefanten - ist
bruchstückhaft. Wir alle halten einen Teil der Wahrheit in unserer Hand und nie-
mand hat sie ganz. Zu sehen, dass unser Wissen so defizitär ist, sollte uns demüti-
ger machen. Und Toleranz, Offenheit für Pluralität und Dialog sind nichts anderes
als die Früchte des Baums der Demut - Demut also: Das ist die wichtigste Lehre,
die man aus dem Gedicht ziehen sollte. Und ich würde tippen: Das wäre im Sinne
Reuchlins.
Dieses Gleichnis lässt sich - so habe ich es immer meinen Studentinnen und
Studenten nahegelegt - besonders gut im Schulunterricht einsetzen. Ich habe bis
2018 in Hamburg an der Universität, an der Akademie für Weltreligionen ge-
lehrt, wo wir Studierende als Lehrende im sogenannten Religionsunterricht für
alle ausgebildet haben. Das ist das spezifische Hamburger Modell eines Religi-
onsunterrichts, das ich wirklich für eine gute Idee halte. Es sieht vor, dass Kinder
aller Religionen in einem Unterricht, in einem Raum zusammensitzen und von
Lehrenden aller Religionen in allen Religionen unterrichtet werden. Das ist keine
Idee, die erst vor kurzem entstanden wäre, sondern wird tatsächlich schon seit
vielen Jahrzehnten in Hamburg praktiziert. Mit dem Ergebnis übrigens, dass deut-
lich weniger Kinder Reli abwählen als in anderen Bundesländern. In Hamburg
bleiben die Kinder viel eher dabei, weil es eben deutlich interessanter ist, sich mit
Angehörigen anderer Religionen über deren Religionen auszutauschen als nur mit
den Angehörigen der eigenen Religion über die eigene. Mir scheint das jedenfalls
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