Karl- Jaspers-Preis
muliert, dort auf die Frage, was Kants Philosophie heute noch sein kann, nämlich
eine, wie es im Untertitel eines späteren Kant-Buches von 2002 heißt, die „Ver-
nunft und Leben“ zusammendenkt und das Individuum ins Zentrum rückt.2 Trotz
einer bis heute ungebrochenen Hochschätzung Kants - und zahlreichen Schlüs-
selpositionen Gerhardts in der internationalen Kant-Forschung - ist der Königs-
berger Denker dabei aber keineswegs der einzige Fragepartner, geschweige denn
Antwortgeber in Gerhardts Denkhorizont geblieben. Die Habilitationsschrift von
1984 (1996 erschienen3) arbeitet sich an einem selbsterklärten Kant-Antipoden,
Friedrich Nietzsche und an dessen Machtverständnis ab - indes nicht, weil Ger-
hardt sich von Nietzsche Antworten auf Fragen erhofft hätte, die sich ihm bei Kant
gestellt haben, sondern vielmehr, weil Nietzsche als bis zum Äußersten gehen-
der Repräsentant einer Selbststeigerungs- und Selbstübersteigerungslogik typisch
moderne Denkpathologien in ein grelles Licht stellt. So viel Gerhardt Nietzsches
Sinntrachten abgewinnen kann, so wenig ist er doch willens, ihm in die Selbster-
schaffungsphantasien und in die Vernunftfeindlichkeit hinein zu folgen. Der Um-
stand allerdings, dass Gerhardt zahlreiche weitere Publikationen zu Nietzsche4
vorgelegt hat und er eine Schlüsselposition auch in der weltweiten Nietzsche-
Forschungslandschaft einnimmt, hat ihn bei kurzatmigen Lesern in den Verdacht
gebracht, der Propagandist einer für die aufgeregte Gegenwart charakteristischen
Selbststeigerungsideologie zu sein.
Nichts könnte Gerhardt freilich ferner liegen: Wenn er als systematisch den-
kender Kopf über Selbststeigerung spricht, dann sind da nicht nur die Vernunft
und die „Dimension der Zukunft“ zwingend mit im Spiel, sondern vor allem der
„Bezug“ des Menschen „zu seinesgleichen“, eine „Entschlossenheit, in die not-
wendig auch die anderen einbezogen sind“.5
Mit Kurzatmigkeit, die sich ohnehin im Feuilleton beim Namen Nietzsche
gerne einstellt, ist Volker Gerhardt nicht beizukommen. Und zwar, weil er einer-
seits -wie Karl Jaspers - denkerischen Extremismen abhold bleibt, erst recht einer
vermeintlich von allen Bindungen sich befreienden Selbststeigerung, die man mit
Nietzsche zu assoziieren pflegt, und weil er andererseits ohnehin nicht bereit ist,
es bei den Fragen und Antworten zu belassen, die ihm von den Autoren der phi-
losophischen Tradition auf den Denkweg mitgegeben worden sind. Wenn Kant
2 Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002.
3 Volker Gerhardt: Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exem-
plarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/New York 1996.
4 Darunter die Bücher: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches
(Stuttgart 1988); Friedrich Nietzsche (München 42006) und: Die Funken des freien Geistes.
Neuere Aufsätze zu Nietzsches Philosophie der Zukunft (hrsg. von Jan-Christoph Heilinger
und Nikolaos Loukidelis, Berlin/Boston 2011).
5 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 272 (im
Original z. T. kursiv). Das Selbststeigerungskapitel umfasst die Seiten 231 bis 272.
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muliert, dort auf die Frage, was Kants Philosophie heute noch sein kann, nämlich
eine, wie es im Untertitel eines späteren Kant-Buches von 2002 heißt, die „Ver-
nunft und Leben“ zusammendenkt und das Individuum ins Zentrum rückt.2 Trotz
einer bis heute ungebrochenen Hochschätzung Kants - und zahlreichen Schlüs-
selpositionen Gerhardts in der internationalen Kant-Forschung - ist der Königs-
berger Denker dabei aber keineswegs der einzige Fragepartner, geschweige denn
Antwortgeber in Gerhardts Denkhorizont geblieben. Die Habilitationsschrift von
1984 (1996 erschienen3) arbeitet sich an einem selbsterklärten Kant-Antipoden,
Friedrich Nietzsche und an dessen Machtverständnis ab - indes nicht, weil Ger-
hardt sich von Nietzsche Antworten auf Fragen erhofft hätte, die sich ihm bei Kant
gestellt haben, sondern vielmehr, weil Nietzsche als bis zum Äußersten gehen-
der Repräsentant einer Selbststeigerungs- und Selbstübersteigerungslogik typisch
moderne Denkpathologien in ein grelles Licht stellt. So viel Gerhardt Nietzsches
Sinntrachten abgewinnen kann, so wenig ist er doch willens, ihm in die Selbster-
schaffungsphantasien und in die Vernunftfeindlichkeit hinein zu folgen. Der Um-
stand allerdings, dass Gerhardt zahlreiche weitere Publikationen zu Nietzsche4
vorgelegt hat und er eine Schlüsselposition auch in der weltweiten Nietzsche-
Forschungslandschaft einnimmt, hat ihn bei kurzatmigen Lesern in den Verdacht
gebracht, der Propagandist einer für die aufgeregte Gegenwart charakteristischen
Selbststeigerungsideologie zu sein.
Nichts könnte Gerhardt freilich ferner liegen: Wenn er als systematisch den-
kender Kopf über Selbststeigerung spricht, dann sind da nicht nur die Vernunft
und die „Dimension der Zukunft“ zwingend mit im Spiel, sondern vor allem der
„Bezug“ des Menschen „zu seinesgleichen“, eine „Entschlossenheit, in die not-
wendig auch die anderen einbezogen sind“.5
Mit Kurzatmigkeit, die sich ohnehin im Feuilleton beim Namen Nietzsche
gerne einstellt, ist Volker Gerhardt nicht beizukommen. Und zwar, weil er einer-
seits -wie Karl Jaspers - denkerischen Extremismen abhold bleibt, erst recht einer
vermeintlich von allen Bindungen sich befreienden Selbststeigerung, die man mit
Nietzsche zu assoziieren pflegt, und weil er andererseits ohnehin nicht bereit ist,
es bei den Fragen und Antworten zu belassen, die ihm von den Autoren der phi-
losophischen Tradition auf den Denkweg mitgegeben worden sind. Wenn Kant
2 Volker Gerhardt: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002.
3 Volker Gerhardt: Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exem-
plarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin/New York 1996.
4 Darunter die Bücher: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches
(Stuttgart 1988); Friedrich Nietzsche (München 42006) und: Die Funken des freien Geistes.
Neuere Aufsätze zu Nietzsches Philosophie der Zukunft (hrsg. von Jan-Christoph Heilinger
und Nikolaos Loukidelis, Berlin/Boston 2011).
5 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 272 (im
Original z. T. kursiv). Das Selbststeigerungskapitel umfasst die Seiten 231 bis 272.
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