Nachruf auf Dieter Henrich
gab ihr die beste Note. Noch kurz vor seinem Tod erinnerte er mich an Thesen,
die ich im Rigorosum verteidigt hatte.
Dabei war ich nur einer von vielen gegen Ende der 1960er Jahre ums Thema
Selbstbewusstsein Bemühten. Ernst Tugendhat, ein anderer bedeutender Lehrer,
hat ihnen nicht ohne Ironie den Namen „Heidelberger Schule“ gegeben. Unter
den damals rebellierenden Studierenden genoss Henrich als einer von wenigen
Professoren Respekt - nicht zuletzt wegen seiner überlegenen Hegel- und Marx-
Kenntnis. Ich habe turbulente Vorlesungsstörungen erlebt, in denen er auf am
Eingang verteilte Flugblätter des SDS in der Folgestunde mit Austeilen eigener
Flugblätter reagierte (von denen ich einige aufbewahrt habe), wobei er aus den
Konfrontationen argumentativ siegreich hervorging. Eine Redensart ging unter
den „Linken“ um, die sich von einem Argument widerlegt bekennen mussten:
„Ja, aber nur von Henrich.“ Henrich war politisch durchaus engagiert. In den en-
denden 1960er Jahren engagierte er sich öffentlich und mit einer Anstecknadel auf
seinem Revers für Willy Brandt. (Man muss sich den historischen Kontext verge-
genwärtigen: Das war nicht dasselbe, wie wenn man sich heute für das einsetzt,
was von der SPD übriggeblieben ist.) Gegen die Räumung des Stuttgarter Bahn-
hofsgeländes wegen des erzwungenen Umbaus protestierte er in der Menge mit
einer Trillerpfeife. Unter dem Zerfall des europäischen Bundestaats-Gedankens
litt er im Alter, erst recht unter der erneuten Zersplitterung der Welt in imperiale
Blöcke, wie sie brutal am Ukraine-Krieg sichtbar wurde.
Eine wesentliche Kindheitserfahrung teilt er in seiner Philosophischen Autobio-
graphie mit: Ein sehr ernster chirurgischer Eingriff am Kopf, den der Zweijährige
nach einer lebensgefährlichen bakteriellen Krankheit bestehen musste, trennte ihn
in der Klinik zeitweise von seinen Eltern. Die Dankbarkeit, die er den überaus
liebevollen und das Trauma nach Kräften wiedergutmachenden Eltern gegenüber
empfand, sei Auslöser seines Gedankens geworden, dass die Subjektivität, nicht
aus sich selbst sei, dass sie sich einem „unverfügbaren Grund“ verdanke. Ein wei-
teres Argument gegen Heideggers, wie er sagte, „ingeniöse, aber grundverkehrte“
Ansicht, neuzeitliches Denken bestehe in einer „Selbstermächtigung der Subjek-
tivität“.
Manfred Frank
241
gab ihr die beste Note. Noch kurz vor seinem Tod erinnerte er mich an Thesen,
die ich im Rigorosum verteidigt hatte.
Dabei war ich nur einer von vielen gegen Ende der 1960er Jahre ums Thema
Selbstbewusstsein Bemühten. Ernst Tugendhat, ein anderer bedeutender Lehrer,
hat ihnen nicht ohne Ironie den Namen „Heidelberger Schule“ gegeben. Unter
den damals rebellierenden Studierenden genoss Henrich als einer von wenigen
Professoren Respekt - nicht zuletzt wegen seiner überlegenen Hegel- und Marx-
Kenntnis. Ich habe turbulente Vorlesungsstörungen erlebt, in denen er auf am
Eingang verteilte Flugblätter des SDS in der Folgestunde mit Austeilen eigener
Flugblätter reagierte (von denen ich einige aufbewahrt habe), wobei er aus den
Konfrontationen argumentativ siegreich hervorging. Eine Redensart ging unter
den „Linken“ um, die sich von einem Argument widerlegt bekennen mussten:
„Ja, aber nur von Henrich.“ Henrich war politisch durchaus engagiert. In den en-
denden 1960er Jahren engagierte er sich öffentlich und mit einer Anstecknadel auf
seinem Revers für Willy Brandt. (Man muss sich den historischen Kontext verge-
genwärtigen: Das war nicht dasselbe, wie wenn man sich heute für das einsetzt,
was von der SPD übriggeblieben ist.) Gegen die Räumung des Stuttgarter Bahn-
hofsgeländes wegen des erzwungenen Umbaus protestierte er in der Menge mit
einer Trillerpfeife. Unter dem Zerfall des europäischen Bundestaats-Gedankens
litt er im Alter, erst recht unter der erneuten Zersplitterung der Welt in imperiale
Blöcke, wie sie brutal am Ukraine-Krieg sichtbar wurde.
Eine wesentliche Kindheitserfahrung teilt er in seiner Philosophischen Autobio-
graphie mit: Ein sehr ernster chirurgischer Eingriff am Kopf, den der Zweijährige
nach einer lebensgefährlichen bakteriellen Krankheit bestehen musste, trennte ihn
in der Klinik zeitweise von seinen Eltern. Die Dankbarkeit, die er den überaus
liebevollen und das Trauma nach Kräften wiedergutmachenden Eltern gegenüber
empfand, sei Auslöser seines Gedankens geworden, dass die Subjektivität, nicht
aus sich selbst sei, dass sie sich einem „unverfügbaren Grund“ verdanke. Ein wei-
teres Argument gegen Heideggers, wie er sagte, „ingeniöse, aber grundverkehrte“
Ansicht, neuzeitliches Denken bestehe in einer „Selbstermächtigung der Subjek-
tivität“.
Manfred Frank
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