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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

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D. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
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III. Das WIN-Kolleg der Jungen Akademie | HAdW
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Siebter Forschungsschwerpunkt: „Wie entscheiden Kollektive?“
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0399
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5. Ein transdisziplinäres Modell zum kollektiven Entscheiden (WIN-Programm)

im Rahmen der Nachwuchsgruppen von Katharina Jacob durch die Akademie ge-
fördert wird, drei verschiedene Textsammlungen (Korpora), bestehend aus Tweets
aus April, Juli und September 2021 erstellt, um eine diachrone Perspektive auf den
deutschen Twitter-Diskurs zu erhalten. Um einen forschungspraktisch beherrsch-
baren Gegenstand zu erhalten, wurden als politische Themen, innerhalb derer
Meinungsbildungsprozesse analysiert werden, die Bewertung und Bezeichnung
der Kanzlerkandidatinnen und -kandidaten der letzten Bundestagswahl und ihrer
Parteien, der Klimawandel und die Debatten rund um die Corona-Pandemie aus-
gewählt. Die unterschiedlichen Meinungen wurden hermeneutisch aus den Da-
ten selbst herausgearbeitet. Angelehnt an Vorgehensweisen von Modellierungen in
der Soziophysik wurden Meinungen als binär opponierende politische Positionen
definiert, wobei innerhalb der drei ausgewählten Themen nicht nur jeweils zwei
Meinungen anzutreffen sind, sondern sich komplexere Diskurspositionen erge-
ben. Zwar gibt es auch abstraktere Meinungen, wie „pro Klimaschutz“ oder „pro
Coronaschutzmaßnahmen“, aber das Meinungsfeld ist allgemein differenzierter,
sodass es durchaus möglich ist, sich für die Weiternutzung von Kernenergie in
Deutschland und für den Windkraftausbau auszusprechen, während für andere
Diskursteilnehmende Atomkraftwerke mit Klimaschutz unvereinbar sind. Ebenso
ist nicht automatisch jeder, der Lockdowns als Infektionsschutz ablehnt, auch au-
tomatisch gegen die Pflicht, in öffentlichen Gebäuden einen Mund-Nasen-Schutz
zu tragen. Auf diese Weise definierte Meinungen werden einerseits in sehr unter-
schiedlichen sprachlichen Realisationen auf Twitter kundgetan. Andererseits ist es
der Kern der Diskurstheorie, dass Diskursteilnehmende maßgeblich von rekurrent
auftretenden Aussagen, also von musterhaft und typisiert auftretenden sprach-
lichen Realisationen, geprägt sind und diese selbst bilden. Für die linguistische
Meinungsanalyse gilt es daher, sprachliche Muster in den Korpora aufzufinden,
die mit bestimmten Meinungen korreliert sind. Dabei fiel zweierlei auf: Erstens
werden Meinungen meist nicht einfach als Prädikationen der Art „x ist richtig“
formuliert, sondern begründet und untermauert. Zweitens zeigt sich eine Viel-
zahl von Positionierungen im Interaktionsraum Twitter nicht in Propositionen,
die eine bestimmte Meinung positiv darlegen, sondern in Ablehnungspraktiken
gegenüber anderen Meinungskundgebungen, etwa mittels Aussagen wie „Das ist
aber nicht korrekt!“. Als erste Konsequenz ist es daher naheliegend, methodisch
eine Argumentationsanalyse vorzunehmen, sich also insbesondere auf die argu-
mentativen sprachlichen Muster zu konzentrieren. Es gilt demnach, sprachliche
Oberflächenmuster zu finden, die einerseits dieselbe Meinung indexikalisch an-
zeigen, andererseits sich derselben Argumentationslogik bedienen. Letztere wird
noch einmal unterteilt in Argument (etwa: „Windräder sind hässlich und verschan-
deln die Landschaft (und sind deshalb abzulehnen)“) und Argumentationstopos
(hier: Asthetiktopos), wobei der Topos die abstraktere Schlussregel beschreibt,
während das Argument die konkretere Anwendung dieser Regel darstellt. Die

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