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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

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A. Das akademische Jahr 2022
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I. Jahresfeier am 21. Mai 2022
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Mittler, Barbara: Wilde Geschichte(n) 野史 oder: Von der Macht der Stille(n) – Gedanken zur Politik in China
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0028
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I. Jahresfeier am 21. Mai 2022

auf dem chinesischen Twitter-Äquivalent MW Weibo - als „wilde Geschichten“ -
immer wieder auftauchten und schließlich auch jenseits der chinesischen Firewall
sichtbar und hörbar wurden, kann man sich vorstellen, was das bedeutet.* * 6
Schon immer hatten chinesische Herrscher Angst vor der Stimme des Volkes
und das lag auch daran, dass sie wussten, dass sie verpflichtet waren, auf diese zu
hören: Zwar unterschied man im chinesischen Kaiserreich zwischen einer „rech-
ten“, also orthodoxen, richtigen Geschichte, der JEfjzhengshi und einer „wilden“
Variante, der ßyeshi, und der Herrscher allein bestimmte darüber, welche Art
von Geschichte die richtige war, doch war eben auch das Recht „wilde Geschich-
ten“ zu schreiben bzw. Kritik zu üben, im politischen System etabliert. Im Gro-
ßen Vorwort Aff zum Buch der Lieder fOS heißt es: „Die Oberen verändern mit
den Liedern die Unteren, die Unteren kritisieren mit den Liedern die Oberen.“
Und wenn man dabei die Form wahre, so weiter, dann „ist wer solche (Kritik)
ausspricht, frei von Schuldanklage; und wer solche hört, dem genügt es zur Mah-
nung....“ JiÜM'fcÄ,
>0Mo 7
Was bedeutet das? Ein Lied/Gedicht/Kunstwerk konnte den Zweck haben von
oben nach unten zu belehren und die Menschen zu besseren Menschen im Sinne
der Herrscher zu machen. Es konnte aber andererseits vom Volk oder auch von
den Beamten, die innerhalb des politischen Systems als Zensoren vorgesehen wa-
ren, genutzt werden, um jene, die sie beherrschten, zu kritisieren - so etwa war
es in der Hundcrt-Blumen-Bewegung auf Geheiß von Mao Zedong geschehen.
Ein guter Herrscher zeichnete sich nun allerdings dadurch aus, dass er den „Weg
der Rede“ K hoffen hielt und damit auch bereit war, Kritik und remonstrierende
Zensoren anzuhören (anders als Mao das 1957 getan hatte). Die Herrscher sam-
melten zu diesem Zweck auch Volkslieder, sie hatten sogar ein eigenes Musikbüro
dazu. Man sammelte diese Lieder, um zu lernen, was das Volk sich dachte, aber
auch, um diese zu bereinigen und „richtiggestellt“ dem Volke wieder beizubringen
und es damit zu „verändern“ — im Sinne der Herrscher.8

und Herbstannalen des Herrn Lü. Lü Shi Chunqiu S von Lü Buwei S T (ca. 3. Jhdt. v.
Chr).
6 VgL die Stimmen aus Shanghai, April 2022: https://www.youtube.com/watch?v=UtJz
vJBZZ4M
7 Die autoritative Studie (inklusive Übersetzung) zum Großen Vorwort findet sich bei Stephen
Owen Readings in Chinee Literary Thought, Cambridge, Mass: Harvard University Press, Asia
Center, 1992, 37-56, die hier zitierten Passagen folgen dem Original, seinen Übersetzungen
und Kommentaren auf 46. Das Original des Großen Vorworts findet sich auch in einer Kom-
plettübersetzung bei Legge, James (transl.) The She King (Vol. IV of The Chinese Classics'). Hong
Kong University Press, Hong Kong 1960: 34-37, die Passage findet sich auf 35.
8 Zu diesem Musikbüro vgl. Jean-Pierre Dieny Aux origines de la Poesie classique en Chine: Etudes
sur la Poesie lyrique ä 1‘epoque des Han, Leiden: Brill, 1968 und Fritz A. Kuttner The Ardiaeology
oßMusic inAncient China, New York: Paragon House, 1990, v.a. 211-221.

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