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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2022
DOI Kapitel:
I. Jahresfeier am 21. Mai 2022
DOI Artikel:
Mittler, Barbara: Wilde Geschichte(n) 野史 oder: Von der Macht der Stille(n) – Gedanken zur Politik in China
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0031
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Festvortrag von Barbara Mittler

Stillstellung des Ministers) in einem historischen Drama von 1961 an, in dem ein
sprichwörtlich gewordener reiner Beamter aus der Ming-Zeit, Hai Rui, seinen
Kaiser kritisiert und dafür gefoltert und ins Gefängnis geworfen wird (Wu Hans
eigenes Schicksal ist nicht minder fatal als das von Peng Dehuai).12 13 An der Mauer
der Demokratie fordert 1979 unter anderem Wei Jingsheng (1950-) die
5. Modernisierung, Demokratie. Für seinen Akt der Remonstration wandert er
postwendend ins Gefängnis. Die Studenten auf dem Tian'anmenplatz knien 1989
mit ihrem Remonstrationsschreiben vor der Großen Halle des Volkes und den
Herrschern der „Diktatur des Proletariats“ nieder. Ihr grausames Schicksal, dass sie
nämlich erschossen, vertrieben, gefangen wurden, ist bekannt.
2016, 40 Jahre nach Ende der Kulturrevolution veröffentlicht Zhou Ruijin
ein Mitglied der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften und
ehemaliger stellvertretender Redakteur der Renmin Ribao also der Beijinger Volkszei-
tung, seine „Reflexionen über die Kulturrevolution“ erneut in Form einer „Petition
in zehntausend Worten“ ^). Er beklagt die einseitige
offiziell vorgegebene Geschichte der Kulturrevolution und fordert einen neuen
Umgang mit dieser: rigoros, demokratisch, nach den Regeln des Rechts. Wenn die
Menschen die Wahrheit kennen, so argumentiert er, werden sie in der Lage sein,
sich eine eigene Meinung über Mao, die Kulturrevolution und die Kommunisti-
sche Partei Chinas zu bilden. Die Petition beginnt kühn: „Die Kulturrevolution
zeigt deutlich, wie schlimm das politische Leben eines Landes werden kann, wenn
es keine Demokratie und keine Rechtsstaatlichkeit gibt und die Macht keiner Be-
schränkung unterliegt.
Nur zwei Jahre später, am 24. Juli 2018, kritisiert der Jurist Xu Zhangrun
TO (1962-) in einer ausführlichen Online-Kritik Xi Jinping, unter dem Ti-
tel „Unsere Ängste und Hoffnungen und greift erneut
die lange Tradition der Remonstration (als jianyan „mahnende Worte“ oder
JiW7 shangshu „Brief nach oben“) auf. Es überrascht nicht, dass Xu, wie die meisten
derjenigen, die in früheren Jahren Remonstrationen verfasst hatten, angefangen
bei Verteidigungsminister Peng Dehuai bis hin zu den auf dem Platz des Himm-
lischen Friedens niedergeschossenen Studenten, mehrfach zu Gefängnisstrafen
verurteilt wurde: Im März 2019 wurde er erneut von der Tsinghua-Universität
degradiert und erhielt ein Lehr-, Schreib- und Publikationsverbot.

12 Es handelt sich um das historische Drama Hai Rui quittiert sein Amt iJTi, H.'S", dessen Kritik
den Auftakt zur Kulturrevolution bildete. Vgl. Fisher, Tom. ‘“The Play’s the Thing’: Wu Han and
I lai Rui Revisited.” The Australiern Journal of Chinese Affairs, no. 7 (1982): 1-35.
13 Das chinesische Original des Textes findet sich hier: https://gaodawei.wordpress.com/tag/%
E5%91%A8%E7%91%9E%E9%87%91/. Für eine englische Übersetzung des Textes, siehe
https://gaodawei.wordpress.eom/2016/07/28/reflections-on-the-cultural-revolution-a-ten-
thousand-character-petition/.

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