I. Jahresfeier am 21. Mai 2022
Aber Chinas Intellektuelle, Chinas Künstler, Chinas Bürger lassen sich nicht
still stellen, sie schrei(b)en, singen, dichten weiter. Wie und warum dennoch im-
mer wieder die „Wut die Angst besiegt“, warum „wütende Bürger nie wieder Angst
haben“ M A A A & A # 'IÄ wird im gleichnamigen offenen Remonstrations-
brief desselben Xu Zhangrun anXiJinping deutlich, der am 4. Februar 2020 online
erschien und vor den Gefahren einer Ein-Mann-Herrschaft, einer kriecherischen
Bürokratie und einer Vielzahl anderer Probleme, die dem System drohen, wenn
es weitere (d. h. politische) Reformen ablehnt, warnt.14 Der Titel spielt mit ei-
ner berühmten Zeile aus einem alten Gedicht von Du Mu A A (803-852), das
den „Volkszorn“ in Antwort auf die „Hybris des (überheblichen) Autokraten“ und
deren „vereitelten kaiserlichen Ehrgeiz“ beschwört. Egal wie sehr die Regierung
versuche, wichtige Stimmen (wie die von Li Wcnliang, des Arztes der bereits im
Dezember 2019 vor den Gefahren des damals noch unbekannten Virus Covid-19
gewarnt hatte) zum Schweigen zu bringen, egal wie oft die Menschen angesichts
der Unterdrückung ihre Stimme verlören AA shi sheng, Xu bleibt optimistisch,
dass es immer weiter noch diejenigen geben werde, die es „wagen würden, sich zu
äußern“ M1F gän yän.
Und in der Tat: Der alte Shanghaier, der seine Wut über den Lockdown im
April 2022 in die Welt schreit, ist sehr bezeichnend in dieser Hinsicht. Er erzählt
eine wirklich „wilde Geschichte“, in dem er auf Parallelen in der chinesischen
Geschichte (der Kulturrevolution etwa und vorangegangener Kampagnen, zum
Beispiel gegen Spatzen) verweist, die in den beiden letzten offiziellen Resolutionen
zur Geschichte vorsichtig ausgespart wurden, und bringt mit dieser „Wilden Ge-
schichte“ deren Relevanz als Trauma für die Gegenwart zum Tragen.15 Er endet
ausgerechnet mit der Aussage, dass er eigentlich am liebsten ins Gefängnis ginge,
da sei man jedenfalls versorgt, und dass er ab jetzt vielleicht „einfach auch nur noch
tief liegen“ bleiben solle - ein Jugendausdruck, der die Verweigerung am optimie-
rungsorientierten Lebensplan teilzunehmen, ausdrückt und sich damit dem in der
„richtigen Geschichte“ als ultimatives Ziel vorgeschriebenen chinesischen Traum
entgegenstellt.
So und ähnlich haben Chinesen immer wieder ihre „Empörung“ darüber
zum Ausdruck gebracht, dass ihnen ständig „der Mund versiegelt“ A P feng köu
oder „das Sprechen verboten“ AüF jin yän wird, ein Neologismus für ganz ähn-
liche ältere Begrifflichkeiten und Praktiken: Der Versuch eines Herrschers, seine
Untertanen zum Schweigen zu bringen, wird in den alten Texten als P qiän
köu (auch A P) bezeichnet, „den Mund fest verschließen“, eine Kurzform von
14 See Geremie Barme „Viral Alarm: When Fury Overcomes Fear“ ChinaFile 10.2.2020 https://
www.chinafile.com/reporting-opinion/viewpoint/viral-alarm-when-fury-overcomes-fear
15 Shanghai Voices - An Old Man Galling for Help: https://www.youtube.com/
watch?v=QU 1 rJK0g7uM
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Aber Chinas Intellektuelle, Chinas Künstler, Chinas Bürger lassen sich nicht
still stellen, sie schrei(b)en, singen, dichten weiter. Wie und warum dennoch im-
mer wieder die „Wut die Angst besiegt“, warum „wütende Bürger nie wieder Angst
haben“ M A A A & A # 'IÄ wird im gleichnamigen offenen Remonstrations-
brief desselben Xu Zhangrun anXiJinping deutlich, der am 4. Februar 2020 online
erschien und vor den Gefahren einer Ein-Mann-Herrschaft, einer kriecherischen
Bürokratie und einer Vielzahl anderer Probleme, die dem System drohen, wenn
es weitere (d. h. politische) Reformen ablehnt, warnt.14 Der Titel spielt mit ei-
ner berühmten Zeile aus einem alten Gedicht von Du Mu A A (803-852), das
den „Volkszorn“ in Antwort auf die „Hybris des (überheblichen) Autokraten“ und
deren „vereitelten kaiserlichen Ehrgeiz“ beschwört. Egal wie sehr die Regierung
versuche, wichtige Stimmen (wie die von Li Wcnliang, des Arztes der bereits im
Dezember 2019 vor den Gefahren des damals noch unbekannten Virus Covid-19
gewarnt hatte) zum Schweigen zu bringen, egal wie oft die Menschen angesichts
der Unterdrückung ihre Stimme verlören AA shi sheng, Xu bleibt optimistisch,
dass es immer weiter noch diejenigen geben werde, die es „wagen würden, sich zu
äußern“ M1F gän yän.
Und in der Tat: Der alte Shanghaier, der seine Wut über den Lockdown im
April 2022 in die Welt schreit, ist sehr bezeichnend in dieser Hinsicht. Er erzählt
eine wirklich „wilde Geschichte“, in dem er auf Parallelen in der chinesischen
Geschichte (der Kulturrevolution etwa und vorangegangener Kampagnen, zum
Beispiel gegen Spatzen) verweist, die in den beiden letzten offiziellen Resolutionen
zur Geschichte vorsichtig ausgespart wurden, und bringt mit dieser „Wilden Ge-
schichte“ deren Relevanz als Trauma für die Gegenwart zum Tragen.15 Er endet
ausgerechnet mit der Aussage, dass er eigentlich am liebsten ins Gefängnis ginge,
da sei man jedenfalls versorgt, und dass er ab jetzt vielleicht „einfach auch nur noch
tief liegen“ bleiben solle - ein Jugendausdruck, der die Verweigerung am optimie-
rungsorientierten Lebensplan teilzunehmen, ausdrückt und sich damit dem in der
„richtigen Geschichte“ als ultimatives Ziel vorgeschriebenen chinesischen Traum
entgegenstellt.
So und ähnlich haben Chinesen immer wieder ihre „Empörung“ darüber
zum Ausdruck gebracht, dass ihnen ständig „der Mund versiegelt“ A P feng köu
oder „das Sprechen verboten“ AüF jin yän wird, ein Neologismus für ganz ähn-
liche ältere Begrifflichkeiten und Praktiken: Der Versuch eines Herrschers, seine
Untertanen zum Schweigen zu bringen, wird in den alten Texten als P qiän
köu (auch A P) bezeichnet, „den Mund fest verschließen“, eine Kurzform von
14 See Geremie Barme „Viral Alarm: When Fury Overcomes Fear“ ChinaFile 10.2.2020 https://
www.chinafile.com/reporting-opinion/viewpoint/viral-alarm-when-fury-overcomes-fear
15 Shanghai Voices - An Old Man Galling for Help: https://www.youtube.com/
watch?v=QU 1 rJK0g7uM
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