I. Jahresfeier am 21. Mai 2022
Aber kann man wirklich noch schreien? Oder bleibt der Schrei eben doch
im Halse stecken? In Hong Kong war 2020 das Gedenken des Massakers in
Tian'anmcn begangen worden, heute sind alle diejenigen, die trotz der Corona-
Verbote dazu aufgerufen hatten, hinter Gittern. Kein weiteres Gedenken hat seither
stattgefunden - Schweigen? Im Juni 2019, bereits zum 30. Jubiläum der Gescheh-
nisse, hatten sich die Demonstrationen gegen das Extraditionsgesetz mit den Teil-
nehmern der Gedenkveranstaltungen vermischt. Hier waren wieder die Sounds of
Silence besonders wichtig: Eines der Protestlieder war ein stilles Lied mit (neuen)
Worten, eine Überschreibung eines bekannten Soundtracks der Bewegung aus Les
Miserables: „Do you hear the People sing?“16 (orig. A la Volonte du Peuple).
Im neuen, auf Kantonesisch gesungenen Text, der, ganz anders als die bei den
Prosten gesungene Version, still gesungen wird, kommt eine gewisse Dringlichkeit
auf: „Wer hat seine Stimme noch nicht erhoben,“ fragt der Text, „...wer will sich
mit Schweigen abfinden, wer ist immer noch nicht wach und hört auf die Freiheit,
die da aufspielt?“ Immer deutlichere Ungeduld spricht aus dem Text: „Warum ist
der Traum immer noch ein Traum? Keiner hat das Recht zu schweigen.“ Und
am Schluss endet der Song in hoffnungsvoller Stimmung: „Wir sind menschliche
Wesen, wir haben die Verantwortung und die Freiheit unsere Vision zu bestim-
men.“
Ein chinesisches Sprichwort besagt, dass alle Übel/Probleme aus dem Mund
stammen huo cong kou chu Ü.17 18 Es gibt sie schon, und immer mehr, die
Angst, nicht mehr des Herrschers vor dem Volk, sondern vor allem des Volks vor
dem Herrscher - es ist stiller geworden, gerade in Hong Kong.
Lu Xun, einer der wichtigsten Sprecher für die chinesische Moderne, hat ein-
mal vor der absoluten, der kalten Stille gewarnt: „Solange man noch Jammern,
Seufzen, Weinen und betteln hört, sollte man nicht allzu besorgt sein. Aber kon-
frontiert mit kalter Stille muss man aufpassen - .... die ist der Vorbote ,echter Wut‘.
OOWÜ HO
TT ;
Und so macht doch Mut, dass die Studenten an der Peking Universität, die
sich Mitte Mai 2022 gegen den Lockdown an ihrer Universität wehrten, nicht
nur Pink Floyd Another brick in the wall gesungen haben, als sie die Barrikaden
abbauten,“We don‘t need no education, we don‘t need no thought control....”,
16 “Do you Hear the Hong Kong People Sing?” https://www.youtube.com/watch ?v=zhQIOf
DQdCo. Ab 2:03 werden die lauteren englischen Versionen des Songs, die während der De-
monstrationen gespielt wurden, angedeutet.
17 Zur Diskussion des Sprichworts, siehe Peter Hessler “A Bitter Education” The New Yor-
ker, online 16.5.2022 https://www.newyorker.com/magazine/2022/05/16/a-teacher-in-china-
learns-the-limits-of-free-expression.
18 Lu, Xun Gemischte Gedanken in Lu Xun Collected Works, ‘f-lit Lu Xun quanji, Beijing:
Renmin wenxue chubanshe, Bd. 3 1973 > 52-55, hier 54-55.
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Aber kann man wirklich noch schreien? Oder bleibt der Schrei eben doch
im Halse stecken? In Hong Kong war 2020 das Gedenken des Massakers in
Tian'anmcn begangen worden, heute sind alle diejenigen, die trotz der Corona-
Verbote dazu aufgerufen hatten, hinter Gittern. Kein weiteres Gedenken hat seither
stattgefunden - Schweigen? Im Juni 2019, bereits zum 30. Jubiläum der Gescheh-
nisse, hatten sich die Demonstrationen gegen das Extraditionsgesetz mit den Teil-
nehmern der Gedenkveranstaltungen vermischt. Hier waren wieder die Sounds of
Silence besonders wichtig: Eines der Protestlieder war ein stilles Lied mit (neuen)
Worten, eine Überschreibung eines bekannten Soundtracks der Bewegung aus Les
Miserables: „Do you hear the People sing?“16 (orig. A la Volonte du Peuple).
Im neuen, auf Kantonesisch gesungenen Text, der, ganz anders als die bei den
Prosten gesungene Version, still gesungen wird, kommt eine gewisse Dringlichkeit
auf: „Wer hat seine Stimme noch nicht erhoben,“ fragt der Text, „...wer will sich
mit Schweigen abfinden, wer ist immer noch nicht wach und hört auf die Freiheit,
die da aufspielt?“ Immer deutlichere Ungeduld spricht aus dem Text: „Warum ist
der Traum immer noch ein Traum? Keiner hat das Recht zu schweigen.“ Und
am Schluss endet der Song in hoffnungsvoller Stimmung: „Wir sind menschliche
Wesen, wir haben die Verantwortung und die Freiheit unsere Vision zu bestim-
men.“
Ein chinesisches Sprichwort besagt, dass alle Übel/Probleme aus dem Mund
stammen huo cong kou chu Ü.17 18 Es gibt sie schon, und immer mehr, die
Angst, nicht mehr des Herrschers vor dem Volk, sondern vor allem des Volks vor
dem Herrscher - es ist stiller geworden, gerade in Hong Kong.
Lu Xun, einer der wichtigsten Sprecher für die chinesische Moderne, hat ein-
mal vor der absoluten, der kalten Stille gewarnt: „Solange man noch Jammern,
Seufzen, Weinen und betteln hört, sollte man nicht allzu besorgt sein. Aber kon-
frontiert mit kalter Stille muss man aufpassen - .... die ist der Vorbote ,echter Wut‘.
OOWÜ HO
TT ;
Und so macht doch Mut, dass die Studenten an der Peking Universität, die
sich Mitte Mai 2022 gegen den Lockdown an ihrer Universität wehrten, nicht
nur Pink Floyd Another brick in the wall gesungen haben, als sie die Barrikaden
abbauten,“We don‘t need no education, we don‘t need no thought control....”,
16 “Do you Hear the Hong Kong People Sing?” https://www.youtube.com/watch ?v=zhQIOf
DQdCo. Ab 2:03 werden die lauteren englischen Versionen des Songs, die während der De-
monstrationen gespielt wurden, angedeutet.
17 Zur Diskussion des Sprichworts, siehe Peter Hessler “A Bitter Education” The New Yor-
ker, online 16.5.2022 https://www.newyorker.com/magazine/2022/05/16/a-teacher-in-china-
learns-the-limits-of-free-expression.
18 Lu, Xun Gemischte Gedanken in Lu Xun Collected Works, ‘f-lit Lu Xun quanji, Beijing:
Renmin wenxue chubanshe, Bd. 3 1973 > 52-55, hier 54-55.
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