Stefan Pfänder
systematisch m/Jdaufen, also retrospektiv den gerade geäußerten Worten eine spe-
zifische Lesart geben sollen.
In anderen Fällen (hier aus Platzgründen nicht illustriert) kann der leibliche
Ausdruck der verbalen Äußerung jedoch auch co/'laufen, um die Rezipientinnen
und Rezipienten gleichsam einzustimmen, wie das Folgende zu verstehen ist6.
Der leibliche Ausdruck der Haltung zum Gesagten ist nicht nur dann rele-
vant, wenn etwas gerade nicht gesagt werden sollte, sondern auch dann, wenn etwas
kaum mit Worten gesagt werden kann. Um dies zu illustrieren, wenden wir uns ei-
ner Sammlung von Gesprächsdaten zu Lagererfahrungen im Dritten Reich zu.
Hier berichtet Paul S. von dem Moment, als sich bei Ankunft des Deporta-
tionszuges im Konzentrationslager Auschwitz die für das Arbeitslager bestimm-
ten Männer von ihren jüngeren Geschwistern und Eltern trennen mussten, ohne
zu wissen, dass der Zug mit diesen weiter in das Vernichtungslager fahren wür-
de (Abb. 4a). Bei der Erinnerung an diesen Moment hält der Erzähler ergriffen
inne, der Blick geht erinnernd in unbestimmte, mittlere Distanz (Abb. 4b), die
Augen füllen sich mit Tränen, der Kopf neigt sich dann, die Augen schließen sich
(Abb. 4c); ein schweres Ausatmen wird gefolgt von einer erneuten Zuwendung
des Blicks zur Gesprächspartnerin (Abb. 4d), um den Erzählfaden wiederaufzu-
nehmen.
Abb. 4a
Abb. 4d
Die systematische Untersuchung solcher Momente des Innehaltens beim Er-
zählen traumatischer Kriegserinnerungen zeigt, dass diese Momente oft im Nach-
gang verbal gerahmt werden als ,schwer erzählbar4 oder ,unvorstellbar4. Spätere
Befragungen der Interviewerinnen und Interviewer sowie derjenigen, die das fil-
mische Dokument anschauen, machen deutlich, dass die leiblich deutlich wer-
6 Kaukomaa, Timo & Peräkylä, Anssi & Ruusuvuori, Johanna (2014): Foreshadowing a prob-
lem: Turn-opening frowns in conversation, in: Journal of Pragmatics, vol. 71, 132-147.
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systematisch m/Jdaufen, also retrospektiv den gerade geäußerten Worten eine spe-
zifische Lesart geben sollen.
In anderen Fällen (hier aus Platzgründen nicht illustriert) kann der leibliche
Ausdruck der verbalen Äußerung jedoch auch co/'laufen, um die Rezipientinnen
und Rezipienten gleichsam einzustimmen, wie das Folgende zu verstehen ist6.
Der leibliche Ausdruck der Haltung zum Gesagten ist nicht nur dann rele-
vant, wenn etwas gerade nicht gesagt werden sollte, sondern auch dann, wenn etwas
kaum mit Worten gesagt werden kann. Um dies zu illustrieren, wenden wir uns ei-
ner Sammlung von Gesprächsdaten zu Lagererfahrungen im Dritten Reich zu.
Hier berichtet Paul S. von dem Moment, als sich bei Ankunft des Deporta-
tionszuges im Konzentrationslager Auschwitz die für das Arbeitslager bestimm-
ten Männer von ihren jüngeren Geschwistern und Eltern trennen mussten, ohne
zu wissen, dass der Zug mit diesen weiter in das Vernichtungslager fahren wür-
de (Abb. 4a). Bei der Erinnerung an diesen Moment hält der Erzähler ergriffen
inne, der Blick geht erinnernd in unbestimmte, mittlere Distanz (Abb. 4b), die
Augen füllen sich mit Tränen, der Kopf neigt sich dann, die Augen schließen sich
(Abb. 4c); ein schweres Ausatmen wird gefolgt von einer erneuten Zuwendung
des Blicks zur Gesprächspartnerin (Abb. 4d), um den Erzählfaden wiederaufzu-
nehmen.
Abb. 4a
Abb. 4d
Die systematische Untersuchung solcher Momente des Innehaltens beim Er-
zählen traumatischer Kriegserinnerungen zeigt, dass diese Momente oft im Nach-
gang verbal gerahmt werden als ,schwer erzählbar4 oder ,unvorstellbar4. Spätere
Befragungen der Interviewerinnen und Interviewer sowie derjenigen, die das fil-
mische Dokument anschauen, machen deutlich, dass die leiblich deutlich wer-
6 Kaukomaa, Timo & Peräkylä, Anssi & Ruusuvuori, Johanna (2014): Foreshadowing a prob-
lem: Turn-opening frowns in conversation, in: Journal of Pragmatics, vol. 71, 132-147.
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