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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

DOI chapter:
A. Das akademische Jahr 2022
DOI chapter:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI article:
Monyer, Hannah: Erinnerung und Gedächtnis: von Mnemosyne zum NMDA-Rezeptor
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0051
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Hannah Monyer

dices, später durch Bücher und Bibliotheken ersetzt. Gedächtnisinhalte wurden
in Kirchen, verschließbaren Schränken oder Börsen gelagert. Die Depots boten
neben der wichtigen Funktion des Lagerns auch jene des Sortierens von Erin-
nerungen. Börsen (sacculi) oder Schränke hatten Fächer, die einen gezielten und
schnellen Zugriff auf das gelagerte Material ermöglichen sollten.
Descartes vertrat die bete machine Doktrin, der zufolge Tiere ,Automata‘ sind;
dementsprechend wird das menschliche Gedächtnis durch rein physikalische Pro-
zesse determiniert. Hundert Jahre später spricht Julien de Lamettrie in HHomme
machine der menschlichen Seele jedwelche Existenzberechtigung ab, und das Ge-
dächtnis folgt, ähnlich wie von Descartes postuliert, deterministischen Regeln, die
berechnet werden können wie die Bewegung von Federn und Rädern eines Uhr-
werks.
Der Kontrast zwischen dem Cartesianischen Universum eines Descartes und
dem Weltbild der Philosophen und Naturwissenschaftler der Romantik zu Beginn
des 19. Jahrhunderts könnte größer nicht sein. Letzteres war geprägt durch die
deutsche Naturphilosophie. Gesetze der Mechanik wurden durch magnetische
Kräfte ersetzt, die Organisches und Anorganisches vereinen. Das Irrationale, Un-
bewusste, die Nachtseite waren bestimmend, und passend dazu war das Gedächt-
nis für die Schriftsteller der Romantik eine Landschaft oder ein Labyrinth. Als
wichtiger Vertreter ist hier der Maler, Physiker, Philosoph und Arzt Carl Gustav
Carus zu nennen. Die Entwicklungen im 19. Jahrhundert brachten einen rapi-
den Wandel von Gedächtnis- Metaphern mit sich. So beginnt ab 1839 mit der
Entwicklung der Photographie eine Ara, in der wichtige technische Neuerun-
gen und Entdeckungen als Metaphern für die Entstehung und Funktionsweise
des Gedächtnisses dienen. Man verglich etwa das Gehirn mit einer lichtsensitiven
Platte, auf der Lichtspuren festgehalten und reproduziert werden. Auch Edisons
Entdeckung des Phonographs blieb nicht ohne Wirkung, und eine entsprechende
Metapher wurde für das Verständnis des akustischen Gedächtnisses herangezogen.
Es folgen Gedächtnis- Metaphern wie Film, Tonband, Hologramm und nicht zu-
letzt der Computer. Obgleich diese Bilder unterschiedliche Assoziationen wecken,
ist allen gemeinsam, dass sie das Festhalten einer Gedächtnisspur implizieren, die
nach dem Speichern keine weitere Veränderung erfährt. Und hier genau hinkt der
Vergleich, wie wir im Folgenden sehen werden.
Zusammenfasend lässt sich sagen, dass seit der Antike bis in die zweite Hälfte
des 19. Jh. das Verständnis des Gedächtnisses von den jeweiligen philosophischen
Strömungen der Zeit geprägt war. Entsprechende Metaphern deuteten auf die
Funktionsweise von Gedächtnis hin und waren daher von heuristischem Wert,
denn sie halfen beim Formulieren von empirisch testbaren Hypothesen.
Es folgt eine in der Geschichte der Neurologie, Psychiatrie und Psycholo-
gie wichtige Zeit, in der phänomenologische Beschreibungen von Dysfunktionen
im Vordergrund standen. Es waren Fallstudien - die Namen der Patienten gingen

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