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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2022
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II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Berg, Manfred: A house divided: stehen die USA vor einem neuen Bürgerkrieg?
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0072
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II. Wissenschaftliche Vorträge

Sklaverei gilt, halten zahlreiche weiße Südstaatler am Mythos des sogenannten Lost
Cause fest: Ihre Vorväter hätten nicht für die Sklaverei, sondern ehrenhaft für die
Freiheit des Südens und gegen die Tyrannei der Bundesregierung gekämpft. Das
Erbe der Konföderation spielt in den Kulturkriegen und politischen Schlachten
der Gegenwart eine zentrale Rolle. Beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021
führten zahlreiche Insurgenten die Flagge der Konföderierten mit sich.
Fast 160 Jahre nach der Kapitulation der Konföderierten diskutieren die US-
Öffentlichkeit ebenso wie Historiker und Politikwissenschaftler ernsthaft darüber,
ob die USA erneut vor einem Bürgerkrieg stehen könnten und ob der „kalte Bür-
gerkrieg“ zwischen zwei heillos verfeindeten politischen Lagern möglicherweise
zu einem heißen, mit Waffen ausgetragenen Konflikt werden könnte. Geschich-
te wiederholt sich nicht. Die Frage „Stehen die USA vor einem neuen Bürger-
krieg?“ soll nicht suggerieren, dass ein mehrjähriger Großkonflikt bevorstünde,
der von uniformierten Armeen in offenen Feldschlachten ausgetragen werden
wird. Bürgerkriege haben viele unterschiedliche Gesichter. Oft handelt es sich um
sogenannte „low-intensity conflicts“, also um Konflikte, in denen nichtstaatliche
Gewaltakteure wie Milizen, Guerillakämpfer und Terroristen eine zentrale Rolle
spielen. Angesichts einer immer militanteren Rhetorik und der zunehmenden po-
litisch motivierten Gewalt, erscheint ein solches Szenario auch in den USA durch-
aus vorstellbar.
Die Analogie zwischen der Gegenwart und dem Civil War ist, bei allen Un-
terschieden, vor allem mit Blick auf seine Vorgeschichte lehrreich. Denn auch dem
Civil War ging eine jahrzehntelange Polarisierung voraus, bis sich der Norden und
der Süden nur noch als unversöhnliche Gegner betrachteten. Während im 19.
Jahrhundert die Sklavereifrage im Zentrum stand, sind es heute Konflikte über die
Einwanderung und die berüchtigten „Kulturkriege“ über Rassismus, Abtreibung,
Homosexualität usw, die das Land in identitätspolitische Lager spaltet. Das urba-
ne, multiethnische, liberale und säkulare Amerika steht dem traditionalistischen,
übeiwiegend weißen, kleinstädtisch-ländlichen, religiösen Amerika gegenüber.
Wie vor dem Civil War liegt der Polarisierung ein fundamentaler Konflikt darüber
zugrunde, welche Wertvorstellungen, sozialen Klassen und ethnischen Gruppen
das Land prägen sollen. Dieser Konflikt schwelt seit Jahrzehnten und wurzelt in
den großen gesellschaftlichen Transformationen, die Amerika seit den Neunzehn-
hundertsechzigerjahren durchlaufen hat. Dazu gehören die Individualisierung
und Liberalisierung der Lebensformen, die radikalen Veränderungen in den Ge-
schlechterrollen, die Bürgerrechtsrevolution, die wirtschaftlichen und demografi-
schen Folgen der Globalisierung und die Medienrevolution.
Die strukturelle Analogie zwischen dem Civil War und der Gegenwart lässt
sich konkret an vier Punkten festmachen: Erstens geht es heute, wie vor 1861,
nicht primär um materielle Interessen, sondern im Kern um zwei als antagonistisch
wahrgenommene Gesellschaftsmodelle. Zweitens haben wir es in der Gegenwart

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