Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2022
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Kube, Hanno: Vertrauen und Vertrauensverluste im Verfassungsstaat
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0074
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
II. Wissenschaftliche Vorträge

ein, was behutsame Rechtsänderungen und Übergangsvorschriften verlangt. Eine
besondere rechtsstaatliche Verantwortung des Staates ergibt sich schließlich dar-
aus, dass auch und vor allem auf den tatsächlichen, gewissenhaften Rechtsvollzug
vertraut wird. Dieses Vertrauen wird - je nach Materie - durch Anhörungsrechte,
Entscheidungsbegründungen und angemessenen Rechtsschutz durch eine Justiz,
der ihrerseits vertraut werden kann, abgestützt. Erhebliche Vollzugsmängel, die bis
hin zur subjektiven Wahrnehmung rechtsfreier Räume führen können, erschüt-
tern das Vertrauensverhältnis des Bürgers zum Staat, können eine innere Abwen-
dung auslösen und - wie in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit zu beobachten
- Formen der Selbstermächtigung induzieren.
Doch bedarf es des rechtsstaatlichen Vertrauens nicht nur im Verhältnis der
Bürger zum Staat, sondern auch im horizontalen Verhältnis der Bürger unterein-
ander. Würde nicht auf die Rechtstreue der Mitmenschen vertraut werden können,
wäre ein geordnetes Zusammenleben nicht möglich. Zuletzt ist rechtsstaatliches
Vertrauen aber auch vom Staat in Richtung auf die Bürger zu denken. Die Rechts-
befolgung ist dabei nicht Gegenstand staatlichen Vertrauens, weil insofern stets
die Option der Kontrolle und zwangsweisen Durchsetzung bleibt. Gegenstand
staatlichen Vertrauens ist im Verfassungsstaat demgegenüber die Freiheitsfähigkeit
der Bürger. Der Rechtsstaat kann als freiheitlicher Staat nur dann gelingen, wenn
die Bürger ihre grundrechtlich geschützte Freiheit annchmen und gestalten. Diese
Annahme kann staatlich nicht garantiert werden, ohne die Freiheit als solche zu
zerstören. Verbindlichen Rechtsvorgaben sind an dieser Stelle Grenzen gesetzt.
Dies mündet in dem an den Staat gerichteten Gebot, die Freiheitsfähigkeit inner-
halb der Gesellschaft zu stärken, dies gerade auch durch eine Stärkung der Ver-
trauensfähigkeit innerhalb der Gesellschaft. Denn auch das nicht verrechtlichte,
zwischenmenschliche Vertrauen ist für die Freiheit im Gemeinwesen essentiell.
Neben dem rechtsstaatlichen Vertrauen steht im Verfassungsstaat das demo-
kratische Vertrauen. Die Demokratie ist eine stark vertrauensbasierte Herrschafts-
ordnung. Die Bürger schenken ihr Vertrauen den demokratisch legitimierten
Repräsentanten und Institutionen des Staates. Für eine Enttäuschung dieses Ver-
trauens gibt es, sieht man von der jeweils nächsten Wahl ab, kein direkt wirkendes
Remedium. Substantielle Vertrauensverluste können deshalb subkutane und ge-
fährliche Folgen haben, von denen unsere gesellschaftliche Wirklichkeit geprägt
ist. Man denke an Hassmails an Politiker, tätliche Übergriffe auf Bürgermeister
und Bewegungen wie die „Reichsbürger“. Hieraus folgt das staatsgerichtete Ge-
bot, das geschenkte Vertrauen hinreichend zu pflegen, so durch gelebte fachliche
und persönliche Autorität der Gewählten, durch informiertes, konsistentes und
transparentes Entscheiden und durch ein inklusives Handeln, das der mitunter
beschriebenen Repräsentationslücke entgegenwirkt.
Auch das demokratische Vertrauen hat daneben eine horizontale, innergesell-
schaftliche Dimension. Denn der gesellschaftliche Politikdiskurs kann nur dann

74
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften