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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2022
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Gerok-Reiter, Annette: Wozu brauchen wir eine ,Andere Ästhetik‘?
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0093
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Annette Gerok-Reiter

Annette Gerok-Reiter
„Wozu brauchen wir eine ,Andere Ästhetik'?"
Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 25. November 2022
In den letzten Jahren erleben ästhetische Fragen eine überraschende Konjunktur.
Öffentliche, z. T. hitzige Diskussionen rund um Fragen von Kunst und ästheti-
scher Wirkung lassen aufhorchen. Verschärft tritt in der jüngsten Krisenzeit Kunst
als Akteur und Symbol sozialer Dynamiken hervor, wird zum Substitut der Krise.
Doch nicht nur die öffentliche Debattenkultur, auch die jüngere Forschungsland-
schaft ist von diesen Auseinandersetzungen betroffen. Verschiedentlich wurde der
,aesthetic turn4 ausgerufen. Diese Wende vollzog sich jedoch - scheinbar paradox
-vor allem in Forschungsfeldern außerhalb der Geisteswissenschaften: In den Ge-
sellschaftswissenschaften etwa wurden die Ausdehnung ästhetischer zu sozialen
Praktiken, die politische Indienstnahme der Kunst oder ästhetisch-epistemologi-
sche Grenzdiskurse thematisiert; Neurowissenschaften und Biologie haben die
grundsätzliche Kunst-Disposition des Menschen empirisch zu belegen versucht.
Die genannten Forschungsansätze ebenso wie die öffentlichen Debatten reagieren
dabei offenkundig auf ein akutes Bedürfnis nach und Interesse an Ästhetik. Die
Antworten greifen jedoch häufig auf ästhetische Prämissen zurück, die sich ausge-
sprochen oder unausgesprochen Autonomiekonzepten des 18. und beginnenden
19. Jahrhunderts verdanken. Gerade damit aber droht die Frage nach der Funktion
der Kunst in sozialer wie anthropologischer Hinsicht wieder aus dem Blick zu
geraten.
Umso dringlicher erscheint es, alternative ästhetische Praktiken, Manifesta-
tionen und Konzepte zu entdecken und zu reflektieren, die nicht von autono-
mieästhetischen Positionen ausgehen. Dabei erweist es sich als ebenso reizvoll
wie wissenschaftsgeschichtlich notwendig, die Suche nach alternativen Traditio-
nen, Praktiken und Konzeptualisierungen bewusst in demselben topographischen
Raum zu beginnen, der Zentrum und Ausgangspunkt jener autonomieästheti-
schen Positionen ist. In diesem Sinn tritt in signifikanter Weise als das ,nächste
Andere4 die europäische Vormoderne in den Blick. Diese bietet - verstanden als
dynamischer, polyphoner und polyzentrischer Raum der Diversität und Hetero-
genität - ein über 2000-jähriges, äußerst vielfältiges Archiv an ästhetischen Akten
und Artefakten, dessen heuristisches Potential bisher in den Theorien der Ästhetik
und damit im Verständnis des Ästhetischen zu wenig Berücksichtigung gefunden
hat. Gerade von einer Ästhetik vor der Ästhetik sind - so die These des Tübinger
Sonderforschungsbereichs Andere Ästhetik - entscheidende Impulse zu erwarten,
die dezidiert auch auf die aktuellen Fragen nach der Relation von Kunst und Ge-
sellschaft in unserer Gegenwart zuführen können.

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