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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

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A. Das akademische Jahr 2022
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III. Veranstaltungen
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Verleihung des Reuchlinpreises 2022 an die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur
DOI Artikel:
Amirpur, Katajun: Dankesrede
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0137
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Reuchlinpreis

Diese Angst ist inzwischen bei vielen weg. Diese ganz junge Generation hat es
so satt, gegängelt, gemaßregelt, kontrolliert zu werden, dass sie jetzt hingeht und
zurückschlägt, wenn die Schergen des Regimes auf sie einprügeln. Das sieht man
derzeit auf vielen Videos, die über social media verbreitet werden, und es ist neu.
Es ist ein bisher so nicht gesehener Mut und Zusammenhalt, der sich in diesem
Kampf für Selbstbestimmung zeigt. Deshalb ist das, was wir jetzt sehen feminis-
tisch.
Und es ist nicht grundsätzlich anti-islamisch. Aber es ist anti-islamisch in
dem Sinne, als es das islamistische System Irans zurückweist, also den Islam, den
sich die iranischen Machthaber zusammengebastelt haben, um das iranische Volk
zu drangsalieren. Diese nennen das, was sie dort praktizieren, den „reinen moham-
medanischen Islam“. Wenn sie das tun, ist es ja nicht verwunderlich, dass Proteste,
die sich dagegen richten, in diesem Sinne natürlich anti sind, auch anti-islamisch.
Aber sie sind es nicht in einem grundsätzlichen Sinne.
Was wir hier vielmehr sehen, ist eine post-islamistische Bewegung. Schon
lange ist die heutige iranische Gesellschaft post-islamistisch. Eben weil in Iran das
erste islamistische Experiment in der Region praktiziert worden ist. Die zentrale
Aussage aller Islamisten weltweit ist: Al-Islam huwa al-hall. Der Islam ist die Lö-
sung. Islamismus meint in diesem Sinne die Ideologisierung des Islams, die In-
einssetzung von Staat und Islam. Iraner gehen heute auf die Straße, um dem eine
Absage zu erteilen. Nach über vierzig Jahren real erlebtem Islamismus sagen sie
heute: Der Islam ist nicht die Lösung, er ist Teil des Problems. Das meine ich mit
Post-Islamismus.
Und damit komme ich zu Deutschland. Und dem, was man hier nicht sieht.
Man sieht nicht viel an Solidarität. In den sozialen Medien häufen sich inzwischen
die Tweets von Iranern, die fragen: Warum ist das so, dass Black lives matter, aber
unsere nicht? Warum geht man nicht für uns auf die Straße?
Ich habe eine Vermutung, warum das so ist. Es ist das Kopftuch. Man hat ei-
ner deutschen Mehrheitsgesellschaft so lange, so eindringlich eingetrichtert, dass
es islamophob sei, gegen das Kopftuch zu sein, dass man jetzt auf einmal völlig
verloren dasteht. Man ist completely lost-wie es die iranisch-amerikanische Frauen-
rechtlerin Masih Alinejad gerade gegenüber dem Spiegel richtig formuliert hat.
Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Deshalb habe ich eben in epischer Breite
über die Bedeutung des Kopftuchs im iranischen Kontext gesprochen. Die Be-
tonung liegt auf: im iranischen Kontext. Man muss sich eben anschauen, genau
hinsehen, was das Kopftuch im iranischen Kontext bedeutet. Dann kann man sich
auch neben eine Frau stellen - symbolisch -, die das Kopftuch verbrennt. Damit
ist man dann nicht islamophob, sondern tritt für das Recht auf Selbstbestimmung
ein. Deshalb stellt sich auch jemand wie die eben erwähnte Faezeh Hashemi jetzt
an die Seite der Protestierenden. Bei ihr, die ich vor vielen Jahren einmal getroffen
habe, bin ich mir nämlich sehr sicher, dass sie das Kopftuch auch tragen würde,

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