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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

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A. Das akademische Jahr 2022
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III. Veranstaltungen
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Verleihung des Karl-Jaspers-Preises 2022 an den Philosophen Volker Gerhardt
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Sommer, Andreas Urs: Von der Existenzphilosophie zur lebensweltgesättigten Experimentalphilosophie: Laudatio
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0156
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III. Veranstaltungen

Auch zum nächsten Zentralbegriff auf Gerhardts Denkweg führt Jaspers im
ersten Vortrag seiner Einführung explizit hin: „Da die Philosophie für den Men-
schen unumgänglich ist, ist sie jederzeit da in einer Öffentlichkeit.“23 Unter dem
Titel der Öffentlichkeit steht Gerhardts 2012 veröffentlichtes Werk. Sein Untertitel
verdient besondere Aufmerksamkeit: „Die politische Form des Bewusstseins“,24
weil sich darin schon die eigentliche Pointe des Buches verbirgt. Sie besagt, dass
das Bewusstsein nichts Privates ist, nichts, was sich nur in meinem Kopf abspielt
und nach ganz privaten Regeln funktioniert, sondern etwas, wozu sich das In-
dividuum stets allgemeiner Denkschemata, allgemeiner Kategorien bedient. Be-
wusstsein ist immer schon verwiesen auf die anderen, denen das Individuum die
Begriffe verdankt, die es benutzt. „Jedes Einzelbcwusstsein ist bereits Ausdruck
einer Partizipation an einem Allgemeinen.“25 Der Mensch ist immer schon ein
„homo publicus“, eine öffentliche Person, ein Mensch für sich und andere. Ver-
nunft oder Bewusstsein ist also eine Öffentlichkeit, die ich schon immer in mich
hineingenommen habe. Selbst, wenn ich über mich selbst nachdenke, tue ich das
mit dem Vokabular und den Gedankenmustern, die ich mit anderen teile. Kann, so
wird man mit Gerhardt fragen, „nicht bereits das Bewusstsein des einzelnen Men-
schen als eine elementare Form von Öffentlichkeit verstanden werden“,26 während
sich die Öffentlichkeit der anderen Menschen ihrerseits als ein großes kollektives
Bewusstsein darstellt? Je mehr an den gesellschaftlichen Urteils- und Entschei-
dungsfindungsprozessen ungehindert beteiligt sind, desto größer ist die Chance,
dass dabei etwas Taugliches, womöglich Wahres herauskommt.
Karl Jaspers scheint hier unmittelbar anzuschließen und doch spricht er im
folgenden Zitat nicht über die politische Öffentlichkeit, sondern über die Philoso-
phie: „Die Art der in ihr zu gewinnenden Gewißheit ist nicht die wissenschaftliche,
nämlich die gleiche für jeden Verstand, sondern ist eine Vergewisserung, bei deren
Gelingen das ganze Wesen des Menschen mitspricht.“27 Dieses „ganze Wesen des
Menschen“ ist das Thema von Gerhardts 2019 erschienenem, magistralem Werk
Humanität, das das Menschsein in seiner ganzen Fülle in dichter philosophischer
Beschreibung auffächert, ohne die strikte Alternative Kulturwesen oder Natur-
wesen länger aufrecht zu erhalten. Bemerkenswert genug setzt das Buch ein mit
einem philanthropischen Bekenntnis: „Im Menschen die Menschheit lieben“.28
Und es schließt mit einem Abschnitt, der Ludwig Feuerbachs These, in Gott wür-
de die Menschheit nur sich selbst vergöttlichen, auf eigentümliche Weise umkehrt:
„Gott ist das uns schlechthin Unbekannte, und glauben heißt, ihm dennoch zu

23 Jaspers: Einführung, S. 12.
24 Volker Gerhardt: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012.
25 Ebd., S. 14 f.
26 Ebd., S. 31.
27 Jaspers: Einführung, S. 9.
28 Volker Gerhardt: Humanität. Über den Geist der Menschheit, München 2019, S. 22.

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