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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

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A. Das akademische Jahr 2022
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III. Veranstaltungen
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Verleihung des Karl-Jaspers-Preises 2022 an den Philosophen Volker Gerhardt
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Gerhardt, Volker: Die Soziomorphie des Bewusstseins: eine Überlegung im Anschluss an Karl Jasper
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0167
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Festvortrag von Prof. Dr. Volker Gerhardt

und „Schutz“ biete.15 Das ändere aber nichts daran, dass der „Zeichen-erfindende
Mensch“ zugleich ein immer schärferes Sensorium für sich selbst entwickelt. Und so
kommt Nietzsche zu dem paradox erscheinenden Ergebnis, dass der Mensch erst
„als soziales Thier lernte, seiner selbst bewusst zu werden“!16
Das ist es, was ich mit Blick auf die Soziomorphie des Bewusstseins bemerkens-
wert finde: Das Bewusstsein kann weder als ein im Hirnkasten lokalisiertes Privat-
kino, noch als ein den subjektiven Eindrücken vorbchaltcnes Privatarchiv angesehen
werden. Vielmehr hat es in seiner Netzstruktur selbst den Charakter einer gesellschaftli-
chen Organisation, die es unter anderem auch möglich macht, dass etwas Bewusstes
nicht nur allgemein, sondern auch öffentlich werden kann.
Leider wird die aus meiner Sicht entscheidende philosophische Konsequenz
dieser Einsicht wieder verschenkt, wenn Nietzsche am Ende seines Aphorismus
in die nihilistische Litanei zurückfällt, dass gerade unter den Netzwerk-Bedin-
gungen des Bewusstseins dem Menschen die Wahrheit verstellt bleibe und „Al-
les, was bewusst wird, ebendamit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen,
Heerden-Merkzeichen wird“, so dass alles „in eine grosse Verderbniss, Fälschung,
Verobcrflächlichung und Generalisation“ münde.17
8. Der sinnerfüllte Raum des Bewusstseins. Wie anders ist das bei Karl Jaspers allein
dadurch, dass er seine These von der Erkenntnis als Mitteilung in einem Werk mit
dem Titel Von der Wahrheit exponiert! Bewusstsein ist für ihn kein sich nach außen
hin abschließendes Arkanum. Es ist auch nicht ursprünglich „subjektiv“, ist kein
letztlich nur auf sich selbst bezogenes Ich-Bewusstsein. Vielmehr ist es von Anfang
an für anderes und für andere offen.
Allerdings geht es Jaspers nie um bloßes Bewusstsein: Mitteilung ist an Spra-
che gebunden, setzt das Erkennen von Bildern und Bedeutung voraus, kommt nicht
ohne Metaphern aus und ist auf das Zusammenspiel vieler Individuen angewiesen, die
auf ihre Natur vertrauen und dabei, Zeichen gebend, sich in Worten und Chiffren ver-
ständigend, kulturelle Räume erschaffen und in gemeinsamer Anstrengung auch
politische Ziele durchsetzen können. Dabei schließt Sprechen sowohl die Aner-
kennung von maßgeblichen Autoritäten, etwa in der Form verbindlicher Regeln und
vertrauenswürdiger Institutionen sowie die Freiheit des Einzelnen voraus. Nur unter
diesen Bedingungen konnte Jaspers über die Schuldfrage oder über das Problem der
Atombombe schreiben.
Bewusstsein setzt also auf eine tragfähige Verbindung zu anderem seiner selbst. Es
drängt zur Mitteilung in der Äußerung und beruhigt sich erst, wenn es Rückmeldung
von anderen hat. Es beginnt mit der Angewiesenheit auf die Stimme vertrauter
Menschen, achtet aufmerksam auf Anzeichen guter oder schlechter Nachrichten

15 Ebd., 592.
16 Ebd., 592.
17 Ebd., 593.

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