III. Veranstaltungen
und kann in Augenblicken eigener Schwäche Kraft bereits aus der Anteilnahme der
Nächsten ziehen.
Freilich gibt es nach einer Enttäuschung oder in der Furcht vor einer Entde-
ckung die Verheimlichung eines Wissens. Dabei ist es möglich, dass man sich, auch
ohne Lügendetektor, verrät oder zur Aussage gezwungen wird. Tortur und Folter
sind zwar geächtete, aber bis heute weit verbreitete Mittel, an das Aussagen ver-
weigernde Bewusstsein eines Menschen heranzukommen. Und so schrecklich es
ist: Auch hier wird die Gleichung von Erkennen und Mitteilen unterstellt; nur wird
übersehen, dass die freiwillig mitgeteilte Wahrheit das einzige Gleichheitszeichen ist,
dass die Würde des Menschen nicht verletzt - auch wenn es nicht immer mit Ge-
wissheit verbunden ist. In jedem Fall aber füllt das Bewusstsein soziale Räume mit
Bedeutung und Sinn, Räume, die, wie Körper auch, ein Außen und Innen haben.
9. Die Öffentlichkeit des Denkens. Jaspers’ philosophische Eigenständigkeit -
auch im Urteil über Nietzsche - zeigt sich darin, dass er Verbindlichkeiten ebenso
wie auch Freiheit voraussetzt, allerdings auch darin, dass er im Blick auf das Ganze
des Daseins und der Welt die Wahrheit - auch metaphysisch - relativieren kann.
So wird es ihm möglich, nicht nur mit weitreichendem Verständnis sowohl Kant,
Hegel und Schelling wie auch Kierkegaard und Nietzsche zu deuten.
Doch entscheidend ist die Grundrelation, um die es ihm im Kapitel mit der
Gleichung zwischen Bewusstsein und Mitteilung geht. In den nachfolgenden Ka-
piteln seines Wahrheitsbuches werden die Konsequenzen mit Blick auf das Ganze
des Denkens und des Lebens in extensio18 ausgeführt. Doch zunächst und vorrangig
stellt er nach der Exposition der Logik die Gründe für die Gleichung zwischen Er-
kenntnis und Mitteilung heraus: Das geschieht bei ihm in detailliertem Nachvollzug
der vielfältigen Leistungen des Bewusstseins.19 20
Im Gang der Analyse zeigt sich, dass der elementare Selbstbezug des Selbst-
bewusstseins nichts Ursprüngliches ist und sich vor allem niemals allein auf sich
selbst bezieht. Denn ursprünglich ist dieses Bewusstsein nichts anderes als das, was
den zur Mitteilung anstehenden Inhalt so verstehen und erwarten lässt, dass dies auch
Anderen möglich ist. Diese Erwartung gibt zu erkennen, was es vor aller Rede vom
„Ursprünglichen“ zu erkennen gilt: Dass Bewusstsein auf die Korrespondenz mit
denjenigen gegründet ist, von denen jeder Selbstbewusste annimmt, dass er sie als
sein Gegenüber auch versteht - nach Möglichkeit so, wie das je Mitgeteilte selbst
gemeint ist. Der Raum des Bewusstseins bezieht damit im Prinzip alle Individuen ein,
die sich in ausdrücklicher Gegenseitigkeit auf einander beziehen.2"
18 Der dritte Teil über Wahrheit umfasst mehr als 600 Seiten. Hinzu kommen die mehr als 200
Seiten über das Umgreifende der Erkenntnis.
19 Jaspers, Über die Wahrheit, 1947. 453 - 1045.
20 Ob dazu auch die Tiere gehören, deren Verhalten wir interpretieren und die ihrerseits das
menschliche Verhalten in vielem zutreffend verstehen, muss nicht ausgeschlossen werden.
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und kann in Augenblicken eigener Schwäche Kraft bereits aus der Anteilnahme der
Nächsten ziehen.
Freilich gibt es nach einer Enttäuschung oder in der Furcht vor einer Entde-
ckung die Verheimlichung eines Wissens. Dabei ist es möglich, dass man sich, auch
ohne Lügendetektor, verrät oder zur Aussage gezwungen wird. Tortur und Folter
sind zwar geächtete, aber bis heute weit verbreitete Mittel, an das Aussagen ver-
weigernde Bewusstsein eines Menschen heranzukommen. Und so schrecklich es
ist: Auch hier wird die Gleichung von Erkennen und Mitteilen unterstellt; nur wird
übersehen, dass die freiwillig mitgeteilte Wahrheit das einzige Gleichheitszeichen ist,
dass die Würde des Menschen nicht verletzt - auch wenn es nicht immer mit Ge-
wissheit verbunden ist. In jedem Fall aber füllt das Bewusstsein soziale Räume mit
Bedeutung und Sinn, Räume, die, wie Körper auch, ein Außen und Innen haben.
9. Die Öffentlichkeit des Denkens. Jaspers’ philosophische Eigenständigkeit -
auch im Urteil über Nietzsche - zeigt sich darin, dass er Verbindlichkeiten ebenso
wie auch Freiheit voraussetzt, allerdings auch darin, dass er im Blick auf das Ganze
des Daseins und der Welt die Wahrheit - auch metaphysisch - relativieren kann.
So wird es ihm möglich, nicht nur mit weitreichendem Verständnis sowohl Kant,
Hegel und Schelling wie auch Kierkegaard und Nietzsche zu deuten.
Doch entscheidend ist die Grundrelation, um die es ihm im Kapitel mit der
Gleichung zwischen Bewusstsein und Mitteilung geht. In den nachfolgenden Ka-
piteln seines Wahrheitsbuches werden die Konsequenzen mit Blick auf das Ganze
des Denkens und des Lebens in extensio18 ausgeführt. Doch zunächst und vorrangig
stellt er nach der Exposition der Logik die Gründe für die Gleichung zwischen Er-
kenntnis und Mitteilung heraus: Das geschieht bei ihm in detailliertem Nachvollzug
der vielfältigen Leistungen des Bewusstseins.19 20
Im Gang der Analyse zeigt sich, dass der elementare Selbstbezug des Selbst-
bewusstseins nichts Ursprüngliches ist und sich vor allem niemals allein auf sich
selbst bezieht. Denn ursprünglich ist dieses Bewusstsein nichts anderes als das, was
den zur Mitteilung anstehenden Inhalt so verstehen und erwarten lässt, dass dies auch
Anderen möglich ist. Diese Erwartung gibt zu erkennen, was es vor aller Rede vom
„Ursprünglichen“ zu erkennen gilt: Dass Bewusstsein auf die Korrespondenz mit
denjenigen gegründet ist, von denen jeder Selbstbewusste annimmt, dass er sie als
sein Gegenüber auch versteht - nach Möglichkeit so, wie das je Mitgeteilte selbst
gemeint ist. Der Raum des Bewusstseins bezieht damit im Prinzip alle Individuen ein,
die sich in ausdrücklicher Gegenseitigkeit auf einander beziehen.2"
18 Der dritte Teil über Wahrheit umfasst mehr als 600 Seiten. Hinzu kommen die mehr als 200
Seiten über das Umgreifende der Erkenntnis.
19 Jaspers, Über die Wahrheit, 1947. 453 - 1045.
20 Ob dazu auch die Tiere gehören, deren Verhalten wir interpretieren und die ihrerseits das
menschliche Verhalten in vielem zutreffend verstehen, muss nicht ausgeschlossen werden.
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