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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

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B. Die Mitglieder
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Frank, Manfred: Dieter Henrich (05.01.1927 – 17.12.2022)
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B. Die Mitglieder

habe ich immer nur Bücher geschrieben, die sich ergaben, während alles, was ich
erstrebte, Fragment geblieben ist.“
In systematischer Philosophie ist Henrichs Auseinandersetzung mit Tugend-
hat und Habermas unvergessen. Beiden, die auf vergleichbare Weise für einen
Vorrang der gesellschaftlich-sprachlichen Einbettung von Subjekten vor ihrem
angeblich solitären Selbstbewusstsein plädieren, hat er in bedeutenden Ausein-
andersetzungen kraftvoll widersprochen. Dass unser Selbstwissen nicht aus der
,Abrichtung4 durch eingespielten Sprachgebrauch, insbesondere nicht aus der Re-
gelkenntnis von Indexwörtern und Personalpronomina erklärt werden kann, ist
seither verbreitete Ansicht gerade auch der zeitgenössischen Philosophy of Mind.
Auch die Vorordnung der Intersubjektivität vor der Subjektivität führt in die Zirkel
der Reflexionstheorie, wie schon Henrichs kleine Fichte-Abhandlung von 1966
und sein Aufsatz Selbstbewußtsein von 1970 angedeutet hatten. Wenn ich etwa mit
Hegel sage: „Das Selbstbcwußtsein ist sich nach seiner wesentlichen Allgemein-
heit nur real, insofern es seinen Widerschein in anderen weiß (ich weiß, daß andere
mich als sich selbst wissen)“, so ist wie im Reflexionsmodell Vertrautheit des Sub-
jekts mit sich schon unterstellt. Denn wie sollte ich mich im Anderen erkennen,
wenn ich über diese elementare Kenntnis nicht schon verfügt hätte? (Davon abge-
sehen, dass, wie Sartre spöttisch hinzufügt, Andere sich hoffentlich nicht mit mir
verwechseln - und ich mich nicht mit ihnen.)
Henrich ist am 5. Januar 1927 in Marburg geboren und war ordentlicher
Professor an der FU Berlin, der Universität Heidelberg, schließlich der LMU
München. Zahlreiche weitere Rufe ins In- und Ausland hat er abgelehnt, Gast-
professuren hat er vielfach in den Staaten und in Japan wahrgenommen, in Har-
vard war er „Ständiger Gastprofessor“. Hier hatte er 1973, eingeladen von Stanley
Cavell und John Rawls, seinen großen Auftritt vor den Weltstars der analytischen
Philosophie (u. a. Quine, Nozick und Putnam). Sie gaben ihm die Chance, sei-
ne Überzeugung von der Unabgegoltenheit der argumentativen Ressourcen des
deutschen Idealismus in einem Vorlesungszyklus mit dem Titel „Between Kant
and Hegel“ vor einem wenig verständnisbereiten Publikum zu plausibilisieren. Es
war der Beginn eines lebenslangen Austauschs mit der analytischen Philosophie
des Geistes, insbesondere mit Castaneda, Chisholm, Putnam und Nozick.
Ich war Henrichs Schüler während seiner Heidelberger Zeit. Das war ein
doppelter Glücksfall: Die Vertracktheit der Struktur des Selbstbewusstseins hat
mich mein weiteres intellektuelles Leben nicht losgelassen. Glück war auch, dass
ich Henrichs Doktorand wurde. Denn das Projekt meiner in der Germanistik be-
gonnenen Dissertation über das Zeitproblem der Frühromantik (mit einer Ap-
plikation auf Tieck) war durch ein Ereignis der Studentenrevolte misstönig bei
meinem „Doktorvater“ gescheitert. Ich erzählte Henrich den Casus nicht ohne
Verlegenheit, aber er nahm — mit einem kernigen Kommentar über den Kollegen,
der mir „gekündigt“ hatte - die verwaiste Doktorarbeit unter seine Fittiche und

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