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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

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C. Die Forschungsvorhaben
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II. Tätigkeitsberichte
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3. Goethe-Wörterbuch (Tübingen)
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0259
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3. Goethe-Wörterbuch (Tübingen)

neuen deutschen Sprachgesellschaft in Anspielung auf den Namen der traditions-
reichen Florentiner Accademia della Crusca einen Weizen- und keinen Kleienverein
(WA IV 17,306). Einblicke in die Arbeitswelt des Textilgewerbes um 1800 gewährt
die Partie Webegeschirr-Weberzettel, wobei Goethe weben und seine Komposita häufig
auch als Metaphern der Text- und Gedankenproduktion verwendet und die perso-
nifizierte Natur als ewige Weberin bezeichnet (WA I 3,92 Vs. 2). Als harte lexiko-
graphischc Nuss eiwies sich das auf den ersten Blick unscheinbare Adjektiv weich,
das durch seine semantische Komplexität überrascht. Dass sich Goethe als Leiter
der Wasserbaukommission im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach intensiv um
die Beschaffung von Weidenzweigen für die Uferbefestigung kümmern musste,
zeigen Lemmata wie Weidenarbeit, Weidenpacht und Weidenverkauf. Die Spannweite
seiner naturwissenschaftlichen Neugier deutet sich in Artikeln wie Walroßschädel,
Weichtier oder Weichselzopf an. Dagegen verweist die Goethe’sche Wortschöpfung
Walpurgissack auf eine spezifische Strategie der Selbstzensur im Umkreis der Faust-
Dichtung.
Immer wieder stößt man auf Funde, die Beiträge zu gender-Debatten nicht
nur in sprachlicher Hinsicht liefern könnten. So können wir im walten-Artikel
entdecken: „der Vater waltet im Hause/Fleißig, die thätige Mutter belebt im Ganzen die
Wirtschaft“ (WA I 50,246 Vs. 59f). Wahrsager und Weissager sind zwar im Alpha-
bet nicht weit entfernt, unterscheiden sich aber bei Goethe - und vielleicht auch
kulturgeschichtlich insgesamt? - dadurch, dass als Weissager so gut wie ausschließ-
lich Männer bezeichnet werden, während Wahrsager zumeist weiblich und damit
Wahrsagerinnen sind. Eine Ausnahme bildet allein Kassandra als Weissagerin; und
Goethes Verzweiflung angesichts der politischen Entwicklungen seiner eigenen
Zeit (wir befinden uns mitten in der Französischen Revolution) klingt einigerma-
ßen aktuell: „Leider muß man nur meistentheils verstummen, um nicht, wie Cassandra,für
wahnsinnig gehalten zu werden, wenn man das weissagt, was schon vor der Thür ist“ (WA
IV 18,71).
Schließlich noch ein Beispiel für die Ergiebigkeit der Wortbildung mithilfe
von Komposita: Zu weg- fallen Goethe nicht etwa nur geläufige Bildungen wie
weggeben, weglassen, weglaufen, wegnehmen, wegschmeißen oder wegsehen ein. Es gibt
vielmehr auch wegheiraten, wegkapern, wegkaufen, wegklimpern, wegkorrigieren, weg-
krapseln, wegkurieren, wegläutern, wegleben, weglesen, wegleugnen, weglöschen. Einiges da-
von bleibt auf der Ebene des Dialektalen oder privatsprachlichen Gebrauchs: „Ich
habe mir auch kleine Tücher um den Hals gekauft, fürchte aber du wirst mir sie wegkrapseln,
denn sie werden auch um den Kopf artig stehen“, so schreibt Goethe von seiner Reise in
der Schweiz an seine Lebensgefährtin Christiane Vulpius (WA IV 12,349).
Auch in der Sprache ist eben manches nur vorübergänglich, genau wie die „wun-
dernswürdige Gestalt,/Erhabnen Anstand, liebenswerthe Gegenwart“ (WA I 15.1,207 Vs.
9183-9185) - Eigenschaften, die die Götter Faust eben nur auf Zeit, nämlich vor-
übergänglich liehen. Die ungewöhnliche Einmalbildung ist offensichtlich vor allem

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