Antrittsrede von Jonas Grethlein
Aber davor musste ich, im Rückblick kann ich sagen: durfte ich, Zivildienst
leisten. Statt von einer Bildungsinstitution in die nächste zu stolpern, unterstand
ich erst einmal dem strengen Regiment eines Küsters, der davor fünfzehn Jahre
bei der Bundeswehr gedient und dementsprechend wenig Sympathien für Kriegs-
dienstverweigerer hatte. Vor allem aber lernte ich im Umgang mit Kindern und
Senioren, wie erfüllend soziale Arbeit sein kann. Mit dieser Erfahrung zog ich
nach Göttingen und begann zuerst Geschichte und Latein, dann auch Griechisch
zu studieren. Nach vier Semestern an der Georgia-Augusta ging ich mit einem
Auslandsstipendium der Studienstiftung für ein Jahr nach Oxford. Die Rückkehr
nach Deutschland wurde durch das Angebot von Bernhard Zimmermann erleich-
tert, in Freiburg grundständig zu promovieren. Ich hatte das Glück, mit ihm einen
Doktorvater und in Achim Gehrke einen althistorischen Mentor zu finden, die
meiner Vernarrtheit in Literatur- und Kulturtheorie mit großer Toleranz begeg-
neten. 2002 promovierten sie mich mit einer Arbeit über das Asylmotiv in der
griechischen Tragödie. Beeinflusst vom New Historicism, hatte ich versucht zu
zeigen, dass selbst die vermeintlich eindimensionalen Dramen, in denen Athen als
Schutzmacht Verfolgter gefeiert wird, die Werte der Polis weniger affirmierten als
einer kritischen Prüfung unterzogen.
In einer Phase postdoktoraler Erschöpfung und in einem letzten Akt der Auf-
lehnung gegen meine bildungsbürgerliche Familie heuerte ich bei McKinsey an.
Ich erkannte aber schnell, dass ich mein Geld, auch wenn es weniger sein sollte,
lieber mit der Interpretation von Literatur als dem Ausfüllen von Excel-Tabellen
verdienen wollte. Bernhard Zimmermann nahm mich großzügig wieder auf und
nach einem kurzen Aufenthalt in Freiburg ging ich 2003 für zwei Jahre als Em-
my-Noether-Stipendiat nach Harvard. Dort schrieb ich eine Arbeit über das Ge-
schichtsbild der Ilias, mit der ich mich 2005 in Freiburg in Klassischer Philologie
und Alter Geschichte habilitierte.
Diese Arbeit verbindet zwei Felder, die seitdem Kerngebiete meines For-
schens sind: Zum einen Geschichtsbilder. An ihnen interessiert mich weniger ih-
re ideologische und identitätsstiftende Funktion, die zuletzt Jan Assmann in den
Vordergrund gerückt hat, als ihre Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit. Um sie zu
analysieren, greife ich vor allem auf die phänomenologische Tradition von Hus-
serl über Heidegger bis Ricoeur zurück. Zum anderen Narratologie: So steril die
formale Analyse von Erzählstrukturen auch sein mag, sie kann als Instrument der
Interpretation wichtige Dienste leisten, etwa zeigen, in welcher Form sich Ge-
schichtsbilder ausdrücken.
Kurz nachdem ich die Nachwuchsgruppe für die zweite Phase des Emmy-
Noether-Stipendiums zusammengestellt hatte, bot mir die University of Cali-
fornia in Santa Barbara 2007 eine Position als Assistant Professor an. Ich nahm
an, nicht nur, weil ich surfen lernen wollte, sondern vor allem, weil es unwahr-
scheinlich war, dass ich mit meinen theoretischen Neigungen in der deutschen
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Aber davor musste ich, im Rückblick kann ich sagen: durfte ich, Zivildienst
leisten. Statt von einer Bildungsinstitution in die nächste zu stolpern, unterstand
ich erst einmal dem strengen Regiment eines Küsters, der davor fünfzehn Jahre
bei der Bundeswehr gedient und dementsprechend wenig Sympathien für Kriegs-
dienstverweigerer hatte. Vor allem aber lernte ich im Umgang mit Kindern und
Senioren, wie erfüllend soziale Arbeit sein kann. Mit dieser Erfahrung zog ich
nach Göttingen und begann zuerst Geschichte und Latein, dann auch Griechisch
zu studieren. Nach vier Semestern an der Georgia-Augusta ging ich mit einem
Auslandsstipendium der Studienstiftung für ein Jahr nach Oxford. Die Rückkehr
nach Deutschland wurde durch das Angebot von Bernhard Zimmermann erleich-
tert, in Freiburg grundständig zu promovieren. Ich hatte das Glück, mit ihm einen
Doktorvater und in Achim Gehrke einen althistorischen Mentor zu finden, die
meiner Vernarrtheit in Literatur- und Kulturtheorie mit großer Toleranz begeg-
neten. 2002 promovierten sie mich mit einer Arbeit über das Asylmotiv in der
griechischen Tragödie. Beeinflusst vom New Historicism, hatte ich versucht zu
zeigen, dass selbst die vermeintlich eindimensionalen Dramen, in denen Athen als
Schutzmacht Verfolgter gefeiert wird, die Werte der Polis weniger affirmierten als
einer kritischen Prüfung unterzogen.
In einer Phase postdoktoraler Erschöpfung und in einem letzten Akt der Auf-
lehnung gegen meine bildungsbürgerliche Familie heuerte ich bei McKinsey an.
Ich erkannte aber schnell, dass ich mein Geld, auch wenn es weniger sein sollte,
lieber mit der Interpretation von Literatur als dem Ausfüllen von Excel-Tabellen
verdienen wollte. Bernhard Zimmermann nahm mich großzügig wieder auf und
nach einem kurzen Aufenthalt in Freiburg ging ich 2003 für zwei Jahre als Em-
my-Noether-Stipendiat nach Harvard. Dort schrieb ich eine Arbeit über das Ge-
schichtsbild der Ilias, mit der ich mich 2005 in Freiburg in Klassischer Philologie
und Alter Geschichte habilitierte.
Diese Arbeit verbindet zwei Felder, die seitdem Kerngebiete meines For-
schens sind: Zum einen Geschichtsbilder. An ihnen interessiert mich weniger ih-
re ideologische und identitätsstiftende Funktion, die zuletzt Jan Assmann in den
Vordergrund gerückt hat, als ihre Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit. Um sie zu
analysieren, greife ich vor allem auf die phänomenologische Tradition von Hus-
serl über Heidegger bis Ricoeur zurück. Zum anderen Narratologie: So steril die
formale Analyse von Erzählstrukturen auch sein mag, sie kann als Instrument der
Interpretation wichtige Dienste leisten, etwa zeigen, in welcher Form sich Ge-
schichtsbilder ausdrücken.
Kurz nachdem ich die Nachwuchsgruppe für die zweite Phase des Emmy-
Noether-Stipendiums zusammengestellt hatte, bot mir die University of Cali-
fornia in Santa Barbara 2007 eine Position als Assistant Professor an. Ich nahm
an, nicht nur, weil ich surfen lernen wollte, sondern vor allem, weil es unwahr-
scheinlich war, dass ich mit meinen theoretischen Neigungen in der deutschen
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