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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2022 — 2023

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B. Die Mitglieder
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II. Nachrufe
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Frank, Manfred: Dieter Henrich (05.01.1927 – 17.12.2022)
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https://doi.org/10.11588/diglit.67410#0237
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Nachruf auf Dieter Henrich

Zeugnissen wird deutlich, wie stark Henrich sein Philosophieren auch als Antwort
auf den Terror des Dritten Reichs und das Entsetzen über zwei Weltkriege verstan-
den hat.2
Bei Antritt seiner Heidelberger Professur (1965) war die philosophische
Szene in Deutschland geprägt einerseits durch den fortwährenden Einfluss der
Heidegger’schen Großtheorie, die im seiner selbst bewussten Subjekt den Flucht-
punkt moderner „Seinsverdrängung“ sah. Andererseits waren die - größtenteils in
die Emigration vertriebenen - Vertreter einer,logischen Analyse‘ der Sprache zwar
natürliche Gegner Heideggers, aber nicht minder subjektfeindlich eingestellt.
Nicht das Subjekt sahen sie als ultimativen Lichtspender in Sachen Wissen an,
sondern die Sprache als das Medium, in dem Geltungsansprüche zu verhandeln
seien. Seit den 1960er Jahren kehrte die Sprachanalyse zurück in den deutschen
Sprachraum.
In dieser ideengeschichtlichen Konstellation konnte Henrich beiden Rich-
tungen mit einem ganz neu gewendeten Argument aus den Beständen der über-
wunden geglaubten klassischen deutschen Philosophie vor Augen führen, wie
unabgegolten das - recht verstandene - „subjektphilosophische Erbe“ in Wahrheit
ist. An Fichtes ursprünglicher Einsicht - so der Titel von Henrichs vermutlich wir-
kungsmächtigster Publikation (erschienen erstmals 1966)3 - ließ sich schlagend
belegen, dass die Geistesgeschichte entscheidende Einsichten nicht etwa verges-
sen, sondern überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat. Damit ergab sich ein
starkes Motiv, sich mit der Geschichte der Philosophie in durchaus nicht archivari-
scher, sondern prospektiver Absicht auseinanderzusetzen, statt blind auf das Neue
zu setzen, das (wie Schopenhauer sagt), sofern es gut ist, nicht lange neu bleibt.
Henrich konnte zeigen: In allen Theorien, die das Subjekt für ein Prinzip
der Philosophie hielten, also etwa von Descartes, dem „Vater der modernen Phi-
losophie“, bis in große Teile der europäischen Vorkriegsphilosophie, wurde ein
kleiner, aber bedeutsamer Fehler begangen: Subjekte sind durch Selbstbewusstsein
ausgezeichnet, und das kann nicht als ,Reflexion4 verstanden werden, also nicht
als Ergebnis eines bewusstmachenden Sich-auf-sich-selbst-Zurückbeugens des
mentalen Zustands oder seines Trägers: des „Ich“. Um den objektivierten Zustand
oder seinen Träger als den seinen oder als sich zueignen zu können, musste der
bewusstmachende Akt vorab (der Reflexion zuvor) mit sich schon bekannt sein.

2 Das wird besonders deutlich an den im edition-suhrkamp-Bändchen Konzepte (1987) ver-
sammelten Aufsätzen, z. B. „Die deutsche Philosophie nach zwei Weltkriegen“, „Im Erinnern
zu denken. Eine Vorlesung vierzig Jahre nach Kriegsende“ und „Tod in Flandern und Stein“.
3 Die kleine Schrift hat Henrich 2019 unter dem Titel „Das Ich, das viel besagt“ neu aufgelegt.
Der Untertitel Fichtes Einsicht nachdenken macht die Absicht deutlich, den Entstehungs-
kontext zu vergegenwärtigen und seither gewonnene Einsichten nachzuliefern. Henrich
vergleicht Fichtes Entdeckung insbesondere mit parallelen Einsichten der analytischen Philo-
sophy of Mind.

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