C. Die Forschungsvorhaben
nicht. Und auch eine uns heute selbstverständliche Kategorie wie den „Problem-
bär“ müsste man altchinesischen Enzyklopädisten erst einmal erklären.
Mit Texten verhält es sich ähnlich wie mit Tieren. Es gibt keine natürliche
Klassifikation. Für den modernen Wissenschaftsbetrieb lautet das entscheidende
Kriterium inzwischen, ob Texte online verfügbar sind: Was das Netz nicht bereit-
hält, ist, um eine Jaspers’sche Formulierung zu verwenden, „als ob es nicht wäre“.
Jaspers selbst hat freilich von der Option, Texte nach Gusto zusammenzustellen,
intensiv Gebrauch gemacht: durch eine Philosophiegeschichte, die auf Chrono-
logie weitgehend verzichtet. Und nicht nur auf Chronologie, auch auf Ressorts.
Die Ahnenreihe der großen Philosophen beginnt für Jaspers mit Sokrates, Bud-
dha, Konfuzius und - Jesus. Man muss das nicht „dekonstruktivistisch“ nennen.
Aber wie radikal und innovativ Jaspers’ Verfahren war, zeigen im Vergleich die
avanciertesten zeitgenössischen Modelle, die neukantianische „Problemgeschich-
te“, Heideggers „Seinsgeschichte“ und die hermeneutische Idee der „Wirkungsge-
schichte“. Sie alle setzen voraus, dass die Geschichte der Philosophie, im Prinzip,
linear verläuft.
2022 sind die Großen Philosophen im Rahmen der KJG erschienen1 - eine
Neuedition, die eigentlich eine Erstedition ist. Nicht nur was Einleitung und Kom-
mentar betrifft. Auf der Basis zahlreicher im Nachlass erhaltener handschriftlicher
Vorlagen und Typoskripte konnten die von Jaspers offenbar nur flüchtig geprüften
Druckfahnen an vielen Stellen korrigiert, Auslassungen ergänzt werden. Der Text
der Großen Philosophen hat damit erstmals eine kritisch-bereinigte Form.
Aber Jaspers wäre nicht Jaspers, wären die Großen Philosophen nicht zugleich
Fragment geblieben. Von drei geplanten Bänden wurde zu seinen Lebzeiten nur
der erste publiziert; auch die Einbeziehung des an sich schon monumentalen
Werkes in den nochmals breiter gezimmerten Rahmen einer „Weltgeschichte der
Philosophie“ kam nicht über den Status vielversprechender Ankündigungen hin-
aus.
Vielleicht hat Jaspers, zählt man alles zusammen, mehr Bücher projektiert als
publiziert. Eines der wichtigsten Projekte stellte das „Hannah-Buch“ dar, an dem
er vier Jahre, von 1963 bis 1967, arbeitete. Die Frage nach der Klassifikation und
Anordnung von Texten gewinnt hier nochmals eine besondere, „mereologische“
Bedeutung. Sind zwei Notizen auf einer Seite zwei Texte oder einer? Ist die Ab-
schrift eines Textes, die von der „Urfassung“ minimal abweicht, ein weiterer Text
oder die Endfassung? Wer Jaspers späte Handschrift kennt, wird sogar die von Bor-
ges aufgespießten Kategorien aktuell finden: Texte, deren Buchstaben mit feiner
Feder gezeichnet sind, leicht und flüssig zu lesen, und Texte, die von Weitem, oft
auch aus der Nähe, aussehen wie Fliegen.
1 Die großen Philosophen, KJG 1/15.1 und 15.2, hg. von Dirk Fonfara, Basel 2022.
318
nicht. Und auch eine uns heute selbstverständliche Kategorie wie den „Problem-
bär“ müsste man altchinesischen Enzyklopädisten erst einmal erklären.
Mit Texten verhält es sich ähnlich wie mit Tieren. Es gibt keine natürliche
Klassifikation. Für den modernen Wissenschaftsbetrieb lautet das entscheidende
Kriterium inzwischen, ob Texte online verfügbar sind: Was das Netz nicht bereit-
hält, ist, um eine Jaspers’sche Formulierung zu verwenden, „als ob es nicht wäre“.
Jaspers selbst hat freilich von der Option, Texte nach Gusto zusammenzustellen,
intensiv Gebrauch gemacht: durch eine Philosophiegeschichte, die auf Chrono-
logie weitgehend verzichtet. Und nicht nur auf Chronologie, auch auf Ressorts.
Die Ahnenreihe der großen Philosophen beginnt für Jaspers mit Sokrates, Bud-
dha, Konfuzius und - Jesus. Man muss das nicht „dekonstruktivistisch“ nennen.
Aber wie radikal und innovativ Jaspers’ Verfahren war, zeigen im Vergleich die
avanciertesten zeitgenössischen Modelle, die neukantianische „Problemgeschich-
te“, Heideggers „Seinsgeschichte“ und die hermeneutische Idee der „Wirkungsge-
schichte“. Sie alle setzen voraus, dass die Geschichte der Philosophie, im Prinzip,
linear verläuft.
2022 sind die Großen Philosophen im Rahmen der KJG erschienen1 - eine
Neuedition, die eigentlich eine Erstedition ist. Nicht nur was Einleitung und Kom-
mentar betrifft. Auf der Basis zahlreicher im Nachlass erhaltener handschriftlicher
Vorlagen und Typoskripte konnten die von Jaspers offenbar nur flüchtig geprüften
Druckfahnen an vielen Stellen korrigiert, Auslassungen ergänzt werden. Der Text
der Großen Philosophen hat damit erstmals eine kritisch-bereinigte Form.
Aber Jaspers wäre nicht Jaspers, wären die Großen Philosophen nicht zugleich
Fragment geblieben. Von drei geplanten Bänden wurde zu seinen Lebzeiten nur
der erste publiziert; auch die Einbeziehung des an sich schon monumentalen
Werkes in den nochmals breiter gezimmerten Rahmen einer „Weltgeschichte der
Philosophie“ kam nicht über den Status vielversprechender Ankündigungen hin-
aus.
Vielleicht hat Jaspers, zählt man alles zusammen, mehr Bücher projektiert als
publiziert. Eines der wichtigsten Projekte stellte das „Hannah-Buch“ dar, an dem
er vier Jahre, von 1963 bis 1967, arbeitete. Die Frage nach der Klassifikation und
Anordnung von Texten gewinnt hier nochmals eine besondere, „mereologische“
Bedeutung. Sind zwei Notizen auf einer Seite zwei Texte oder einer? Ist die Ab-
schrift eines Textes, die von der „Urfassung“ minimal abweicht, ein weiterer Text
oder die Endfassung? Wer Jaspers späte Handschrift kennt, wird sogar die von Bor-
ges aufgespießten Kategorien aktuell finden: Texte, deren Buchstaben mit feiner
Feder gezeichnet sind, leicht und flüssig zu lesen, und Texte, die von Weitem, oft
auch aus der Nähe, aussehen wie Fliegen.
1 Die großen Philosophen, KJG 1/15.1 und 15.2, hg. von Dirk Fonfara, Basel 2022.
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