Festvortrag von Otfried Höffe
Gedankens liegt auf der Hand. Er schließt einen nationalen oder sogar nationalis-
tischen Hochmut aus. Allerdings könnte man eine andere, eurozentrische Über-
heblichkeit befürchten. Zweifellos entgeht Jaspers aber dieser Gefahr, durch die
fremde Denkkulturen missachtet, zugleich gedemütigt würden.
Das erste Verständnis ist so schlicht, dass man es übergehen könnte, bedeu-
tungslos ist es jedoch nicht: Wie jeder europäische Denker wird Jaspers nicht ein-
fach in Europa, sondern in einem bestimmten europäischen Land geboren und
wächst in einem spezifischen, im Fall von Jaspers in einem der für die Philosophie
großen Sprach- und Kulturräume heran.
Weniger schlicht und fraglos nicht minder wichtig ist die zweite Hinsicht:
Jaspers schöpft sein Gedankenrepertoire aus der europäischen Tradition, die er in
einer außergewöhnlichen Breite und Tiefe kennt. Zu zahlreichen Denkern ver-
fasst er eigene Monographien, etwa zu Max Weber, Friedrich Nietzsche und Rene
Descartes, zu Friedrich Wilhelm Schelling und Nikolaus von Kues. Weitere euro-
päische Denker kommen im beinahe tausendseitigen Werk Die großen Philosophen
(1957) hinzu, dort als einer der „maßgebenden Menschen“ Sokrates, als „fortzeu-
gende Gründer des Philosophierens“ Plato, Augustin und Kant und als „aus dem
Ursprung denkende Metaphysiker“ Anaximander, Heraklit, Parmenides, Plotin,
Anselm und Spinoza.
Gemäß dem „Vorwort“ liegt diesem Werk nicht bloß ein philosophiegeschicht-
liches, sondern auch das philosophiepolitische Interesse zugrunde, im damaligen
Wandlungsprozess der Philosophie, einem: „Sturm der Willkür anarchischer Zu-
fälligkeit des Denkens“, die „Krusten philosophischer Konvention“ zu durchbre-
chen, um die Sprache der „geschichtlichen Substanz“ zu hören. Im Rahmen dieser
Intention erweist sich Jaspers in einem dritten, philosophisch noch wichtigeren
Sinn als europäischer Denker. Denn er teilt die Neugier europäischer Geistesgrö-
ßen auf andere Kulturen und die Wertschätzung derer Sitten.
Für diese europäische Tradition interkultureller Neugier und interkultureller
Toleranz genügen hier wenige Beispiele: Sowohl Leibniz, in seinem Novissinia Si-
nica (Das Neueste aus China, 1697), als auch Christian Wolff in seiner Rede über die
praktische Philosophie der Chinesen (1726) rühmen deren Wissenschaft, Philosophie
und Sitten. Kant nennt in seiner Vorlesung Physische Geographie das chinesische
Reich das „ohne Zweifel kultivierteste in der ganzen Weit4“. Montesquieu stellt in
den Lettres persanes (1721) einer europäischen Selbstüberschätzung die Mitglieder
einer außereuropäischen Kultur, die Perser, als tolerant, weltoffen und kritikfähig
entgegen. Schließlich ist an Max Webers stupende Kenntnis von Kulturen aller
Welt und deren von europäischem Hochmut freie Wertschätzung zu erinnern.
In diese paradoxe Einstellung, als Europäer Weltbürger des Geistes, mithin ein
intellektueller Kosmopolit zu sein, reiht sich Jaspers sowohl bescheiden als auch
vorbildlich ein. Es geschieht bescheiden, weil er, vergleicht man ihn mit anderen
deutschsprachigen Denkern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit Edmund
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Gedankens liegt auf der Hand. Er schließt einen nationalen oder sogar nationalis-
tischen Hochmut aus. Allerdings könnte man eine andere, eurozentrische Über-
heblichkeit befürchten. Zweifellos entgeht Jaspers aber dieser Gefahr, durch die
fremde Denkkulturen missachtet, zugleich gedemütigt würden.
Das erste Verständnis ist so schlicht, dass man es übergehen könnte, bedeu-
tungslos ist es jedoch nicht: Wie jeder europäische Denker wird Jaspers nicht ein-
fach in Europa, sondern in einem bestimmten europäischen Land geboren und
wächst in einem spezifischen, im Fall von Jaspers in einem der für die Philosophie
großen Sprach- und Kulturräume heran.
Weniger schlicht und fraglos nicht minder wichtig ist die zweite Hinsicht:
Jaspers schöpft sein Gedankenrepertoire aus der europäischen Tradition, die er in
einer außergewöhnlichen Breite und Tiefe kennt. Zu zahlreichen Denkern ver-
fasst er eigene Monographien, etwa zu Max Weber, Friedrich Nietzsche und Rene
Descartes, zu Friedrich Wilhelm Schelling und Nikolaus von Kues. Weitere euro-
päische Denker kommen im beinahe tausendseitigen Werk Die großen Philosophen
(1957) hinzu, dort als einer der „maßgebenden Menschen“ Sokrates, als „fortzeu-
gende Gründer des Philosophierens“ Plato, Augustin und Kant und als „aus dem
Ursprung denkende Metaphysiker“ Anaximander, Heraklit, Parmenides, Plotin,
Anselm und Spinoza.
Gemäß dem „Vorwort“ liegt diesem Werk nicht bloß ein philosophiegeschicht-
liches, sondern auch das philosophiepolitische Interesse zugrunde, im damaligen
Wandlungsprozess der Philosophie, einem: „Sturm der Willkür anarchischer Zu-
fälligkeit des Denkens“, die „Krusten philosophischer Konvention“ zu durchbre-
chen, um die Sprache der „geschichtlichen Substanz“ zu hören. Im Rahmen dieser
Intention erweist sich Jaspers in einem dritten, philosophisch noch wichtigeren
Sinn als europäischer Denker. Denn er teilt die Neugier europäischer Geistesgrö-
ßen auf andere Kulturen und die Wertschätzung derer Sitten.
Für diese europäische Tradition interkultureller Neugier und interkultureller
Toleranz genügen hier wenige Beispiele: Sowohl Leibniz, in seinem Novissinia Si-
nica (Das Neueste aus China, 1697), als auch Christian Wolff in seiner Rede über die
praktische Philosophie der Chinesen (1726) rühmen deren Wissenschaft, Philosophie
und Sitten. Kant nennt in seiner Vorlesung Physische Geographie das chinesische
Reich das „ohne Zweifel kultivierteste in der ganzen Weit4“. Montesquieu stellt in
den Lettres persanes (1721) einer europäischen Selbstüberschätzung die Mitglieder
einer außereuropäischen Kultur, die Perser, als tolerant, weltoffen und kritikfähig
entgegen. Schließlich ist an Max Webers stupende Kenntnis von Kulturen aller
Welt und deren von europäischem Hochmut freie Wertschätzung zu erinnern.
In diese paradoxe Einstellung, als Europäer Weltbürger des Geistes, mithin ein
intellektueller Kosmopolit zu sein, reiht sich Jaspers sowohl bescheiden als auch
vorbildlich ein. Es geschieht bescheiden, weil er, vergleicht man ihn mit anderen
deutschsprachigen Denkern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit Edmund
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