Festvortrag von Otfried Höffe
nikationstheorie der Wahrheit vertritt. Besonders deutlich im Dialog Politeia/Staat
erörtert Platon, wie gesagt, nicht bloß Ansichten und Argumente, er prüft auch die
diskutierenden Personen, ihren Charakter. Durch die Art und Weise, wie sie mit
den Fragen und miteinander umgehen, erhält man nämlich Aufschluss über ihre
intellektuelle (Einsicht) und ihre moralisch- praktische Zuständigkeit (Wohlwol-
len und Freimütigkeit). Philosophische Einsichten sind für Platon nämlich keine
Angebote eines Supermarkts, auf die jeder in freier Auswahl Zugriff hat. Weil sie
vielmehr vom intellektuellen Können und vom moralischen Wollen der Dialog-
partner abhängen, unterscheiden sich Platons Dialoge nicht nur von den damali-
gen sophistischen Rededuellen, sondern auch von der heutigen Konsenstheorie
eines Habermas.
Es gibt einen weiteren Grund, warum Platons Dialoge sich der Zustimmungs-
theorie der Wahrheit versperren. Dabei kommt das Moment der andersartigen, der
existentiellen Wahrheitstheorie herein. Platons Wortführer, Sokrates, will „lieber
mit allen anderen Menschen uneins als mit sich in Widerspruch sein“. Schließlich
ist der folgende Punkt so wichtig, dass er wiederholt sei: Zu Platons Dialogen
gehört eine Entsprechung von Argument und (moralischem und intellektuellem)
Charakter der Dialogpartner. Im Staat beispielsweise treten zunächst zwei ehrba-
re und gutwillige, philosophisch aber unambitionierte Bürger, Kephalos und Po-
lemarchos, auf. Es folgt die unterste Stufe eines Philosophen, der überhebliche
„Aufklärer“, der Sophist Thrasymachos, der die Ehrbarkeit bewusst provoziert.
Das ernsthaft philosophische Gespräch beginnt aber erst, nachdem Thrasymachos
in den Hintergrund getreten ist. Es wird dann mit Personen geführt, die „weder
verstockt noch zweifelsüchtig, noch übelwollend“ sind. Dabei findet eine Kritik
der sophistischen Kritik, mithin eine Aufklärung über Aufklärung, statt. Sie hält
jedoch insofern am Kern der Aufklärung fest, als sie weder die überlieferte Volks-
moral noch deren Sprachrohr, die Dichter, wieder ins Recht setzt.
Zurück zur Konsenstheorie der Wahrheit, zu Habermas als deren wirkungs-
mächtigem Vertreter und zur Notwendigkeit von sinceritas. Bekanntlich herrscht in
der Wirklichkeit meist das Gegenteil vor, in den Worten eines New Yorker Anwalts
zu einem New Yorker Psychoanalytiker: „Sie nehmen das, was die Leute sagen, zu
ernst. Sie meinen, dass Worte, die man miteinander wechselt, einen der Wahrheit
näherbringen, während sie mir dazu dienen, die Wahrheit zu verschleiern.“
Selbst wenn man, um die Gefahr des Verschleierns zu verhindern, analog
zur idealen Sprechsituation einen entsprechend idealen Sprecher voraussetzt, sind
erst notwendige, noch nicht zureichende Bedingungen erfüllt. Dass jeder mit
gleichem Recht, mit gleicher Kompetenz und in aller Aufrichtigkeit seine Mei-
nungen und Interessen artikuliert, garantiert nicht, dass man, statt sich in einer
permanenten Diskussion zu verlieren, tatsächlich eine Übereinstimmung findet.
Es braucht noch ein positives Entscheidungsverfahren, was auf die Binnenstruktur
des Diskurses zurückweist. Man darf abkürzen: Kriterium der Wahrheit bleiben
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nikationstheorie der Wahrheit vertritt. Besonders deutlich im Dialog Politeia/Staat
erörtert Platon, wie gesagt, nicht bloß Ansichten und Argumente, er prüft auch die
diskutierenden Personen, ihren Charakter. Durch die Art und Weise, wie sie mit
den Fragen und miteinander umgehen, erhält man nämlich Aufschluss über ihre
intellektuelle (Einsicht) und ihre moralisch- praktische Zuständigkeit (Wohlwol-
len und Freimütigkeit). Philosophische Einsichten sind für Platon nämlich keine
Angebote eines Supermarkts, auf die jeder in freier Auswahl Zugriff hat. Weil sie
vielmehr vom intellektuellen Können und vom moralischen Wollen der Dialog-
partner abhängen, unterscheiden sich Platons Dialoge nicht nur von den damali-
gen sophistischen Rededuellen, sondern auch von der heutigen Konsenstheorie
eines Habermas.
Es gibt einen weiteren Grund, warum Platons Dialoge sich der Zustimmungs-
theorie der Wahrheit versperren. Dabei kommt das Moment der andersartigen, der
existentiellen Wahrheitstheorie herein. Platons Wortführer, Sokrates, will „lieber
mit allen anderen Menschen uneins als mit sich in Widerspruch sein“. Schließlich
ist der folgende Punkt so wichtig, dass er wiederholt sei: Zu Platons Dialogen
gehört eine Entsprechung von Argument und (moralischem und intellektuellem)
Charakter der Dialogpartner. Im Staat beispielsweise treten zunächst zwei ehrba-
re und gutwillige, philosophisch aber unambitionierte Bürger, Kephalos und Po-
lemarchos, auf. Es folgt die unterste Stufe eines Philosophen, der überhebliche
„Aufklärer“, der Sophist Thrasymachos, der die Ehrbarkeit bewusst provoziert.
Das ernsthaft philosophische Gespräch beginnt aber erst, nachdem Thrasymachos
in den Hintergrund getreten ist. Es wird dann mit Personen geführt, die „weder
verstockt noch zweifelsüchtig, noch übelwollend“ sind. Dabei findet eine Kritik
der sophistischen Kritik, mithin eine Aufklärung über Aufklärung, statt. Sie hält
jedoch insofern am Kern der Aufklärung fest, als sie weder die überlieferte Volks-
moral noch deren Sprachrohr, die Dichter, wieder ins Recht setzt.
Zurück zur Konsenstheorie der Wahrheit, zu Habermas als deren wirkungs-
mächtigem Vertreter und zur Notwendigkeit von sinceritas. Bekanntlich herrscht in
der Wirklichkeit meist das Gegenteil vor, in den Worten eines New Yorker Anwalts
zu einem New Yorker Psychoanalytiker: „Sie nehmen das, was die Leute sagen, zu
ernst. Sie meinen, dass Worte, die man miteinander wechselt, einen der Wahrheit
näherbringen, während sie mir dazu dienen, die Wahrheit zu verschleiern.“
Selbst wenn man, um die Gefahr des Verschleierns zu verhindern, analog
zur idealen Sprechsituation einen entsprechend idealen Sprecher voraussetzt, sind
erst notwendige, noch nicht zureichende Bedingungen erfüllt. Dass jeder mit
gleichem Recht, mit gleicher Kompetenz und in aller Aufrichtigkeit seine Mei-
nungen und Interessen artikuliert, garantiert nicht, dass man, statt sich in einer
permanenten Diskussion zu verlieren, tatsächlich eine Übereinstimmung findet.
Es braucht noch ein positives Entscheidungsverfahren, was auf die Binnenstruktur
des Diskurses zurückweist. Man darf abkürzen: Kriterium der Wahrheit bleiben
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