Nachruf auf Werner Beierwaltes
diese idealistischen Gedanken auch als Schlüssel zur Deutung zentraler neuplato-
nischer Theoreme, insbesondere der Triadik des Proklos und der Geistmetaphysik
Plotins.
Die zentrale systematische Differenz des Neuplatonismus zumal zu Hegel
muß man in der negativen Theologie erkennen: Weil das Eine selbst „jenseits des
Seins“ und „jenseits des Geistes“ ist, darum entzieht es sich jedem erkennenden
Zugriff, der immer in der Zweiheit von Erkennendem und Erkanntem verbleibt.
Erreichbar ist das Absolute nur in differenzloser Einung durch die „Ekstasis“:
den Selbstüberstieg des Denkens in die absolute Transzendenz. So gehen Mys-
tik und Metaphysik im Neuplatonismus eine innige Verbindung ein. Dies nimmt
der christliche Neuplatonismus von Dionysius Areopagita über Johannes Eriu-
gena und Meister Eckhart bis zu Nikolaus von Kues auf und denkt es produktiv
weiter. Von Identität und Differenz (1980) über Denken des Einen (1985), Eriugena
(1993), Christentum und Platonismus (1998) bis hin zu seinen letzten Büchern Pro-
cliana (2007), Fußnoten zu Plato (2011) und Catena Aurea (2017) rückte die Synthese
von Platonismus und Christentum immer stärker ins Zentrum der Interessen von
Werner Beierwaltes. Die neuplatonische Verbindung von Metaphysik und Mystik
und die negative Theologie des Einen gewinnen bei Eriugena und Meister Eck-
hart dadurch eine neue Wendung, dass sie zwar wie Plotin dem Einen, der reinen
Gottheit, alle positiven Seinsbestimmungen absprechen, es aber gerade in seiner
Negativität als absoluten Selbstbezug konzipieren, was Plotin vermieden hatte.
Negativität ist hier nicht mehr nur der Weg unseres Denkens zum überseienden
Einen, sondern vielmehr dessen eigene, immanente Tätigkeit, durch die es alle
Seinsbestimmungen von sich selbst abhält und genau dadurch kreativ als seine
Prinzipiate setzt. Durch diesen ewigen „Hervorgang“ der Ideen und des in ih-
nen sich selbst denkenden Geistes, der ungegenständlich und darum unerschaffen
ist, nimmt das unbestimmbare Eine Bestimmtheit und Sein an und „wird“ so der
dreieinige Gott - und zwar in unserer Vernunft, die für Eckhart der ungeschaffe-
ne Sohn Gottes ist: das ist Eckharts philosophische, radikal entmythologisierende
Deutung der Menschwerdung Gottes. Cusanus führt alle diese Motive in seiner
Philosophie des „wissenden Nichtwissens“ (docta ignorantia) zusammen. Sie reali-
siert, dass wir eine Metaphysik des Absoluten nur so entwickeln können, dass sie
zugleich eine Theorie des Geistes und seiner Beziehung zum Einen ist. Das sich
negativ auf sich selbst beziehende Eine ist als das „Nicht-Andere“ der höchste und
einfachste Ausdruck der Trinität: „Denn das Nicht-Andere ist nichts anderes als
das Nicht-Andere“ (non aliud est non aliud quam non aliud). Als die sich selbst und
alles andere definierende Definition ist das Nicht-Andere der „absolute Begriff“
(conceptus absolutus), dies aber nicht im Sinne Hegels als die sich selbst wissende
positive Seinsfülle der absoluten Idee, sondern als ein rein negativ und damit tran-
szendent bleibender Selbstbezug, der darum auch nicht in einem „absoluten Wis-
sen“ gewusst werden kann, sondern nur in einem Nichtwissen, das alles Wissen
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diese idealistischen Gedanken auch als Schlüssel zur Deutung zentraler neuplato-
nischer Theoreme, insbesondere der Triadik des Proklos und der Geistmetaphysik
Plotins.
Die zentrale systematische Differenz des Neuplatonismus zumal zu Hegel
muß man in der negativen Theologie erkennen: Weil das Eine selbst „jenseits des
Seins“ und „jenseits des Geistes“ ist, darum entzieht es sich jedem erkennenden
Zugriff, der immer in der Zweiheit von Erkennendem und Erkanntem verbleibt.
Erreichbar ist das Absolute nur in differenzloser Einung durch die „Ekstasis“:
den Selbstüberstieg des Denkens in die absolute Transzendenz. So gehen Mys-
tik und Metaphysik im Neuplatonismus eine innige Verbindung ein. Dies nimmt
der christliche Neuplatonismus von Dionysius Areopagita über Johannes Eriu-
gena und Meister Eckhart bis zu Nikolaus von Kues auf und denkt es produktiv
weiter. Von Identität und Differenz (1980) über Denken des Einen (1985), Eriugena
(1993), Christentum und Platonismus (1998) bis hin zu seinen letzten Büchern Pro-
cliana (2007), Fußnoten zu Plato (2011) und Catena Aurea (2017) rückte die Synthese
von Platonismus und Christentum immer stärker ins Zentrum der Interessen von
Werner Beierwaltes. Die neuplatonische Verbindung von Metaphysik und Mystik
und die negative Theologie des Einen gewinnen bei Eriugena und Meister Eck-
hart dadurch eine neue Wendung, dass sie zwar wie Plotin dem Einen, der reinen
Gottheit, alle positiven Seinsbestimmungen absprechen, es aber gerade in seiner
Negativität als absoluten Selbstbezug konzipieren, was Plotin vermieden hatte.
Negativität ist hier nicht mehr nur der Weg unseres Denkens zum überseienden
Einen, sondern vielmehr dessen eigene, immanente Tätigkeit, durch die es alle
Seinsbestimmungen von sich selbst abhält und genau dadurch kreativ als seine
Prinzipiate setzt. Durch diesen ewigen „Hervorgang“ der Ideen und des in ih-
nen sich selbst denkenden Geistes, der ungegenständlich und darum unerschaffen
ist, nimmt das unbestimmbare Eine Bestimmtheit und Sein an und „wird“ so der
dreieinige Gott - und zwar in unserer Vernunft, die für Eckhart der ungeschaffe-
ne Sohn Gottes ist: das ist Eckharts philosophische, radikal entmythologisierende
Deutung der Menschwerdung Gottes. Cusanus führt alle diese Motive in seiner
Philosophie des „wissenden Nichtwissens“ (docta ignorantia) zusammen. Sie reali-
siert, dass wir eine Metaphysik des Absoluten nur so entwickeln können, dass sie
zugleich eine Theorie des Geistes und seiner Beziehung zum Einen ist. Das sich
negativ auf sich selbst beziehende Eine ist als das „Nicht-Andere“ der höchste und
einfachste Ausdruck der Trinität: „Denn das Nicht-Andere ist nichts anderes als
das Nicht-Andere“ (non aliud est non aliud quam non aliud). Als die sich selbst und
alles andere definierende Definition ist das Nicht-Andere der „absolute Begriff“
(conceptus absolutus), dies aber nicht im Sinne Hegels als die sich selbst wissende
positive Seinsfülle der absoluten Idee, sondern als ein rein negativ und damit tran-
szendent bleibender Selbstbezug, der darum auch nicht in einem „absoluten Wis-
sen“ gewusst werden kann, sondern nur in einem Nichtwissen, das alles Wissen
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