I. Jahresfeier am 18. Mai 2019
Bei einem der Jasperschen Leitbegriffe jedoch, bei der Wahrheit, empfiehlt
sich exemplarisch eine Mikroanalyse. Zusätzlich, wegen des Leitgedankens „ein
europäischer Denker“, drängt sich ein näherer Blick auf Jaspers’ im Jahr 1947 ge-
stellte Frage auf: „Was ist Europa?“
Jaspers, daran ist einleitend zu erinnern, war trotz hoher Wertschätzung zeit-
lebens ein Außenseiter in der Philosophie. In akademischer Hinsicht beginnt er
nicht als Philosoph, sondern als Psychiater. Gemäß seiner Philosophischen Autobio-
graphie (1977) philosophiert er allerdings „von Jugend auf“ und wendet sich der
Medizin und Psychopathologie „aus philosophischen Motiven“ heraus zu (30).
Er will nämlich erkennen, „was möglich ist“ (11) und wie „die Wirklichkeit“ aus-
sieht (12). In dem Jahr, in dem der französische Schriftsteller Marcel Proust für
sein Jahrhundertwerk A la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen
Zeit) lange Zeit vergeblich einen Verleger sucht, in dem Jahr, in dem der Wiener
Arzt Arthur Schnitzler seinen schwierigsten Patienten, die Gegenwart, zu diagnos-
tizieren unternimmt, in diesem Jahr 1913, am Vorabend des Ersten Weltkrieges,
wird Jaspers jedenfalls nicht mit einem philosophischen Werk, sondern mit seiner
Allgemeinen Psychopathologie, einem „Leitfaden für Studierende, Arzte und Psycho-
logen“, weithin bekannt.
I. Vier Aspekte europäischen Denkens
Schon mit dieser ersten Monographie, einem methodischen Grundlagenwerk,
eiweist sich Jaspers als europäischer Denker. Diese These ist nicht etwa einer
tagespolitischen Aktualität, der Europawahl im Jahr 2019, geschuldet, vielmehr
dem Versuch, für Jaspers’ themen- und facettenreiches Denken eine von üblichen
Charakterisierungen abweichende Einheit zu finden. In diesem Sinn liegen den
folgenden Überlegungen gemäß Aristoteles’ Devise to telos estin ou gnösis alla präxis
(„das Ziel liegt nicht im Erkennen, sondern Handeln“, Nikomachische Ethik I 1,
1095 a 5 f.) mitlaufend ein philosophisch-politisches Interesse zugrunde: Wie kann
man dem Vertreter eines einzigen europäischen Denk- und Kulturraumes den die
innereuropäischen Partikularismen relativierenden Anspruch „europäisch“ zu
sein, einräumen? Und: Wie sieht in einer längst nicht mehr europäisch dominan-
ten, nämlich globalisierten Welt ein sinnvolles europäisches Denken aus?
Zugleich ist das bleibende Gewicht von Jaspers’ Denkmotiven zu betonen. Da
diese Motive schon in den frühen Werken zutage treten, darf man sich auf diese
Schriften konzentrieren, zumal im Vergleich zu den späteren Werken Jaspers hier
zupackender, prägnanter argumentiert. Am Ende werden aber noch jene ausdrück-
lichen Ansichten zu Europa vorgestellt, die der Philosoph bald nach dem Zweiten
Weltkrieg entwickelt.
Der Grundgedanke, Jaspers als ein europäischer Denker, ist in mehreren,
zunehmend anspruchsvolleren Hinsichten zu verstehen. Ein erster Vorteil dieses
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Bei einem der Jasperschen Leitbegriffe jedoch, bei der Wahrheit, empfiehlt
sich exemplarisch eine Mikroanalyse. Zusätzlich, wegen des Leitgedankens „ein
europäischer Denker“, drängt sich ein näherer Blick auf Jaspers’ im Jahr 1947 ge-
stellte Frage auf: „Was ist Europa?“
Jaspers, daran ist einleitend zu erinnern, war trotz hoher Wertschätzung zeit-
lebens ein Außenseiter in der Philosophie. In akademischer Hinsicht beginnt er
nicht als Philosoph, sondern als Psychiater. Gemäß seiner Philosophischen Autobio-
graphie (1977) philosophiert er allerdings „von Jugend auf“ und wendet sich der
Medizin und Psychopathologie „aus philosophischen Motiven“ heraus zu (30).
Er will nämlich erkennen, „was möglich ist“ (11) und wie „die Wirklichkeit“ aus-
sieht (12). In dem Jahr, in dem der französische Schriftsteller Marcel Proust für
sein Jahrhundertwerk A la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen
Zeit) lange Zeit vergeblich einen Verleger sucht, in dem Jahr, in dem der Wiener
Arzt Arthur Schnitzler seinen schwierigsten Patienten, die Gegenwart, zu diagnos-
tizieren unternimmt, in diesem Jahr 1913, am Vorabend des Ersten Weltkrieges,
wird Jaspers jedenfalls nicht mit einem philosophischen Werk, sondern mit seiner
Allgemeinen Psychopathologie, einem „Leitfaden für Studierende, Arzte und Psycho-
logen“, weithin bekannt.
I. Vier Aspekte europäischen Denkens
Schon mit dieser ersten Monographie, einem methodischen Grundlagenwerk,
eiweist sich Jaspers als europäischer Denker. Diese These ist nicht etwa einer
tagespolitischen Aktualität, der Europawahl im Jahr 2019, geschuldet, vielmehr
dem Versuch, für Jaspers’ themen- und facettenreiches Denken eine von üblichen
Charakterisierungen abweichende Einheit zu finden. In diesem Sinn liegen den
folgenden Überlegungen gemäß Aristoteles’ Devise to telos estin ou gnösis alla präxis
(„das Ziel liegt nicht im Erkennen, sondern Handeln“, Nikomachische Ethik I 1,
1095 a 5 f.) mitlaufend ein philosophisch-politisches Interesse zugrunde: Wie kann
man dem Vertreter eines einzigen europäischen Denk- und Kulturraumes den die
innereuropäischen Partikularismen relativierenden Anspruch „europäisch“ zu
sein, einräumen? Und: Wie sieht in einer längst nicht mehr europäisch dominan-
ten, nämlich globalisierten Welt ein sinnvolles europäisches Denken aus?
Zugleich ist das bleibende Gewicht von Jaspers’ Denkmotiven zu betonen. Da
diese Motive schon in den frühen Werken zutage treten, darf man sich auf diese
Schriften konzentrieren, zumal im Vergleich zu den späteren Werken Jaspers hier
zupackender, prägnanter argumentiert. Am Ende werden aber noch jene ausdrück-
lichen Ansichten zu Europa vorgestellt, die der Philosoph bald nach dem Zweiten
Weltkrieg entwickelt.
Der Grundgedanke, Jaspers als ein europäischer Denker, ist in mehreren,
zunehmend anspruchsvolleren Hinsichten zu verstehen. Ein erster Vorteil dieses
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