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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2019 — 2020

DOI chapter:
A. Das akademische Jahr 2019
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I. Jahresfeier am 18. Mai 2019
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Höffe, Otfried: Karl Jaspers, ein europäischer Denker: Festvortrag
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https://doi.org/10.11588/diglit.55176#0028
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I. Jahresfeier am 18. Mai 2019

Husserl, Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein, eine Sonderstellung ein-
nimmt, sie aber nicht wortreich hervorhebt, sondern einfachhin praktiziert: Im
Rahmen seines philosophischen Kosmopolitismus zählt Jaspers zu den „maßge-
benden Menschen“ nach Sokrates als Vertreter des Abendlandes, für den indischen
Kulturraum Buddha, für China Konfuzius, schließlich für den vorderen Orient
den Reformjuden Jesus. Angesichts dieser jedem geistigen Eurozentrismus wider-
sprechenden Weltoffcnheit lässt sich schwerlich rechtfertigen, dass die heutigen
interkulturellen Debatten an Jaspers kein Interesse zeigen.
Die bisherigen Hinweise betreffen immer noch nicht die Schrift, mit der Jas-
pers’ denkerisches Werk anhebt, die Psychopathologie. Für sie ist eine vierte, noch
wichtigere Hinsicht europäischen Denkens einschlägig. Auf die Gefahr, hier als
Jaspers-Häretiker zu erscheinen, wähle ich zur Begründung als Bezugsphiloso-
phen nicht einen der Denker, denen Jaspers in den Großen Philosophen den weitaus
größten Platz einräumt, Kant, auch nicht einen der weiteren Favoriten, Platon und
Kierkegaard, selbst nicht Schelling oder Nietzsche. Vielmehr berufe ich mich auf
den Autor, den Jaspers als den „Begründer der wissenschaftlichen Philosophie“
(Diegroßen Philosophen, 521) und als den großen „Systembilder der Antike“ schätzt
(Psychologie der Weltanschauungen, 186): Aristoteles.
Auch wenn die Psychopathologie noch nicht zur Philosophie im engeren Sinn
zählt, gelingt es dem Autor, einem erst dreißigjährigen Habilitanden, vier von Aris-
toteles’ herausragenden Fähigkeiten zu realisieren. Als erstes behandelt Jaspers ei-
nen zuvor nicht unbekannten, aber noch wenig erforschten Gegenstandsbereich.
Folglich darf er bei seiner Themenwahl als ziemlich originell gelten. Weiterhin
wirft er auf die einschlägige Empirie einen, soweit ich es als Laie beurteilen darf,
unverstellten Blick. Mithin ist er ein offener, dabei gründlicher Beobachter, der
gemäß Aristoteles’ Forderung sözein ta phainomena („die Phänomene retten“) die
Wirklichkeit wahrnimmt und etwaige Widersprüchlichkeit anerkennt. Drittens ver-
mag er für die Vielfalt der Beobachtungen eine sachgerechte Theorie zu entwickeln.
Nicht zuletzt pflegt er eine unter Philosophen nicht häufig zu findende Haltung,
eine epistemische, also wissenstheoretische Toleranz (vgl. Höffe 420 1 4, Teil II).
Bekanntlich hat Aristoteles der Rationalität extrem verschiedener Disziplinen
gleichermaßen Recht widerfahren lassen, nämlich nicht bloß der Logik und der
Wissenschaftstheorie, sondern auch der Ontologie, Ethik und Politik, sogar der
Rhetorik und der Poetik. Um diese wissenstheoretische Toleranz zu erkennen und
anzuerkennen, die Jaspers in der Psychopathologie pflegt, empfiehlt sich exempla-
risch, an die spätere leidenschaftliche Kontroverse um Erklären und Verstehen zu
erinnern. Gegen die damaligen Exklusivansprüche, die beide Seiten jeweils für
sich erhoben, praktiziert Jaspers die Gegenthese, nach der gegenüber dem Beob-
achtungsmaterial seiner Habilitationsschrift beide Methoden berechtigt sind:
Tatbestände des Seelenlebens lassen sich entweder als Erlebnisinhalte des Sub-
jekts vergegenwärtigen oder als objektiv gegebene Leistungen untersuchen. Dort,

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