I. Jahresfeier am 18. Mai 2019
bietet, aus der täglichen Routine auszubrechen: Angesichts des Todes wird er zu
Tapferkeit und Gelassenheit herausgefordert, angesichts des Kampfes zum Lie-
ben, angesichts der Schuld zur Verantwortung und angesichts des Leidens zum
Glück.
Wegen des Gedankens der Grenzsituationen könnte man meinen, zu den gro-
ßen, auch schwierigen Entscheidungen sei der Mensch nur in derartigen Situatio-
nen, in wahrhafter existentieller Not, bereit. Dann würde er allerdings, so scheint
es, nicht aus freien Stücken handeln. Nach dem existentiellen Wahrheitsbegriff
gehört aber zur Wahrheit ein Moment willentlicher Zustimmung. Von dem für sie
entscheidenden Standpunkt, dem Subjekt, her gesehen, besteht die Wahrheit im
gelebten Leben, im Existieren. Sie ist ein Existenzakt, und dieser bleibt je unabge-
schlossen. Denn, schlichter formuliert, erschöpft sich das gelebte Leben nicht in
dem einen oder anderen außergewöhnlichen Moment, sondern setzt sich so lange
fort, bis man stirbt.
Auf einen weiteren Wahrheitsbegriff von Jaspers sei nur im Vörübergehen
hingewiesen. Für oberflächige Jaspers-Leser überraschend und von so einflussrei-
chen Kommunikationstheoretikern wie Habermas kaum erwähnt, besteht er in der
Kommunikation. Jaspers bestimmt die Vernunft sogar als den „Willen zu grenzlo-
ser Kommunikation“, sie sei wie das „Ausstrecken der Hände“. Im Heidelberger
Vortrag „Vom Kampf der Glaubensmächte. Karl Jaspers zum Kampf der Kulturen“
erkennt Habermas (1997, 42) zwar an, dass Jaspers für einen „Willen zur Kommu-
nikation“ und eine „friedensstiftende Kommunikation“ plädiert. In der — freilich
etliche Jahre vorher erschienen - Theorie des kommunikativen Handelns (1981,82011)
taucht Jaspers aber weder im Literaturverzeichnis noch im Namenregister auf.
Jaspers hält die Kommunikation für eine „universale Bedingung des Mensch-
seins“. Nicht erst in den heutigen Zeiten der Globalisierung - schon Jaspers di-
agnostiziert dieses Phänomen, nennt es freilich „Planetarisierung“ - ist sie schon
aus politischen Gründen, noch wichtiger aus Gerechtigkeitsüberlegungen unauf-
gebbar: eine Verständigung aller Kulturen der Welt. In deren Anerkennung, seiner
kosmopolitischen Offenheit, zeigt sich erneut Jaspers’ europäischer Geist, nämlich
als europäisches und genau deshalb weltoffenes, kosmopolitisches Denken. Der
Nekrolog spricht von der Aufgabe der „europäischen Philosophie, in eine kommen-
de Weltphilosophie“ überzugehen.
V. Exkurs: Kommunikationstheorie der Wahrheit?
Im Vergleich zu Habermas spricht dies zugunsten von Jaspers: Obwohl er „Kom-
munikation“ und „kommunikative Vernunft“ für wesentlich hält, vertritt er keine
Kommunikationstheorie, nämlich keine dazugehörige Konsenstheorie der Wahr-
heit. Ohnehin ist eine derartige Theorie in einem wörtlichen Sinne para-dox:
Sie widerspricht der allgemein anerkannten Ansicht, der Korrespondenztheorie,
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bietet, aus der täglichen Routine auszubrechen: Angesichts des Todes wird er zu
Tapferkeit und Gelassenheit herausgefordert, angesichts des Kampfes zum Lie-
ben, angesichts der Schuld zur Verantwortung und angesichts des Leidens zum
Glück.
Wegen des Gedankens der Grenzsituationen könnte man meinen, zu den gro-
ßen, auch schwierigen Entscheidungen sei der Mensch nur in derartigen Situatio-
nen, in wahrhafter existentieller Not, bereit. Dann würde er allerdings, so scheint
es, nicht aus freien Stücken handeln. Nach dem existentiellen Wahrheitsbegriff
gehört aber zur Wahrheit ein Moment willentlicher Zustimmung. Von dem für sie
entscheidenden Standpunkt, dem Subjekt, her gesehen, besteht die Wahrheit im
gelebten Leben, im Existieren. Sie ist ein Existenzakt, und dieser bleibt je unabge-
schlossen. Denn, schlichter formuliert, erschöpft sich das gelebte Leben nicht in
dem einen oder anderen außergewöhnlichen Moment, sondern setzt sich so lange
fort, bis man stirbt.
Auf einen weiteren Wahrheitsbegriff von Jaspers sei nur im Vörübergehen
hingewiesen. Für oberflächige Jaspers-Leser überraschend und von so einflussrei-
chen Kommunikationstheoretikern wie Habermas kaum erwähnt, besteht er in der
Kommunikation. Jaspers bestimmt die Vernunft sogar als den „Willen zu grenzlo-
ser Kommunikation“, sie sei wie das „Ausstrecken der Hände“. Im Heidelberger
Vortrag „Vom Kampf der Glaubensmächte. Karl Jaspers zum Kampf der Kulturen“
erkennt Habermas (1997, 42) zwar an, dass Jaspers für einen „Willen zur Kommu-
nikation“ und eine „friedensstiftende Kommunikation“ plädiert. In der — freilich
etliche Jahre vorher erschienen - Theorie des kommunikativen Handelns (1981,82011)
taucht Jaspers aber weder im Literaturverzeichnis noch im Namenregister auf.
Jaspers hält die Kommunikation für eine „universale Bedingung des Mensch-
seins“. Nicht erst in den heutigen Zeiten der Globalisierung - schon Jaspers di-
agnostiziert dieses Phänomen, nennt es freilich „Planetarisierung“ - ist sie schon
aus politischen Gründen, noch wichtiger aus Gerechtigkeitsüberlegungen unauf-
gebbar: eine Verständigung aller Kulturen der Welt. In deren Anerkennung, seiner
kosmopolitischen Offenheit, zeigt sich erneut Jaspers’ europäischer Geist, nämlich
als europäisches und genau deshalb weltoffenes, kosmopolitisches Denken. Der
Nekrolog spricht von der Aufgabe der „europäischen Philosophie, in eine kommen-
de Weltphilosophie“ überzugehen.
V. Exkurs: Kommunikationstheorie der Wahrheit?
Im Vergleich zu Habermas spricht dies zugunsten von Jaspers: Obwohl er „Kom-
munikation“ und „kommunikative Vernunft“ für wesentlich hält, vertritt er keine
Kommunikationstheorie, nämlich keine dazugehörige Konsenstheorie der Wahr-
heit. Ohnehin ist eine derartige Theorie in einem wörtlichen Sinne para-dox:
Sie widerspricht der allgemein anerkannten Ansicht, der Korrespondenztheorie,
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