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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2019 — 2020

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2019
DOI Kapitel:
I. Jahresfeier am 18. Mai 2019
DOI Artikel:
Höffe, Otfried: Karl Jaspers, ein europäischer Denker: Festvortrag
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55176#0037
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Festvortrag von Otfried Höffe

aber nicht Abbildtheorie, der selbst Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus
anhängt. Nach der sachgerechteren Ansicht, der Adäquationstheorie („adaequatio
intellectus et rei“) besteht die Wahrheit in der Übereinstimmung vom Denken,
intellectus, mit der Sache oder dem Sachverhalt, res: „Es verhält sich so, genau so
und nicht anders.“ Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit stellt sich auch gegen
eine weitere prominente Wahrheitstheorie, die Kohärenztheorie, der zufolge sich
die Wahrheit nicht in einzelnen Aussagen, sondern in strukturierten Aussagebün-
deln, an Aussagensystemen, an deren innerer Stimmigkeit, der Konsistenz bzw.
Kohärenz, entscheidet.
Nach der Konsenstheorie hingegen soll die Wahrheit von den Aussagen ande-
rer Personen abhängen. Ein wenig vereinfacht: Wahr ist, was Zustimmung findet,
freilich nicht irgendeine, sondern die freie, von jedem Zwang ungehinderte Über-
einstimmung. Für diese Theorie könnte man Aristoteles als Vorläufer ansehen,
nämlich seinen in der Topik (II) vertretenen Gedanken der endoxa, der anerkann-
ten Meinungen. Die „von allen oder den meisten oder den Fachleuten“ vertretenen
Ansichten gelten dort aber lediglich als plausibel, ausdrücklich nicht als wahr.
Für eine tatsächlich Konsenstheorie, zu der auch die pragmatische Wahr-
heitstheorie von C. S. Pierce und die Theorie der interpersonalen Verifikation von
Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen zu rechnen sind, treffen fünf Merkmale zu:
1. Diese Wahrheitstheorien beziehen sich ausschließlich auf die Aussagenwahrheit.
2. Sie definieren diese durch ein Verfahren der Feststellung von wahren Aussagen.
3. Das Verfahren geht von der Gesprächssituation aus und ist an der geglückten
Übereinstimmung orientiert. 4. Die Übereinstimmung meint letztlich nicht ein
historisch-faktisches Ereignis; sie wird normativ als wahrer Konsens oder sach-
gemäße Übereinstimmung in einer idealen Sprechsituation und das einschlägige
Gespräch als Diskurs verstanden. 5. Als wahrer Konsens gilt die potentielle Über-
einstimmung entweder aller Personen oder aller kompetenten Gesprächs- bzw.
Diskursteilnehmer.
Bei dieser Abhängigkeit der Aussagenwahrheit vom Verständigungsprozess
sprach- und handlungsfähiger Subjekte bleibt nun zweierlei unklar. Zum einen:
Welche Rolle soll die Übereinstimmung hinsichtlich der Wahrheit spielen? Zum
anderen: Inwiefern begründet diese Rolle eine Konsenstheorie? Nehmen wir als
Beispiel Habermas: Indem er die Einlösung von Geltungsansprüchen an Argu-
mentationsprozesse bindet, greift er die traditionelle Bindung der Erkenntnis an
die Begründbarkeit auf. Das Begründen (Xöyov öiöövai) hängt allerdings nicht
von einem Konsens ab. Im Gegenteil heißt „Begründen“, die Wahrheitsansprüche
vom Zufall eines historischen Einigungsprozesses, von Willkür, insbesondere von
Manipulation, Betrug und Selbsttäuschung, nicht zuletzt von struktureller Gewalt
abzukoppeln. Die Übereinstimmung im gewöhnlichen Verständnis ist dagegen ein
historisches Ereignis, das den Raum für nicht-argumentative und insofern nicht-
rationale Elemente öffnet.

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