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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2019 — 2020

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2019
DOI Kapitel:
I. Jahresfeier am 18. Mai 2019
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Höffe, Otfried: Karl Jaspers, ein europäischer Denker: Festvortrag
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https://doi.org/10.11588/diglit.55176#0041
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Festvortrag von Otfried Höffe

VI. Achsenzeit?
Für Jaspers als Vorbild eines europäischen Denkers kann man eineinhalb Jahrzehn-
te nach seinem Göschen-Bändchen überspringen und findet sich dann in einer pa-
radoxen Situation: Von einem europäischen Kleinstaat, der sich gegen den Beitritt
zur Europäischen Union sperren wird, gehen nach dem Zweiten Weltkrieg zwei
bedeutende Europa-Impulse aus. Die Schweiz verdankt dieses Privileg sowohl
weitsichtigen Initiativen als auch einer völkerrechtlich anerkannten Neutralität.
Die erste Initiative ist allseits bekannt: Im Frühjahr 1948 hält ein Regierungs-
chef der Siegermächte, Winston Churchill, bewusst außerhalb von Deutschland,
trotzdem in einer deutschsprachigen Wirtschafts- und Kulturmetropole, Zürich,
und dort ausdrücklich vor der in Distanz zum Krieg stehenden Generation, der
Studentenschaft, also der Jugend, die berühmte Rede: Lasst Europa auferstehen, in
Form Vereinigter Staaten von Europa, zu denen sein eigenes Land allerdings nicht
gehören werde.
Schon eineinhalb Jahre vorher kommen in der anderen Finanz- und Wirt-
schafts-, aber auch Kulturmetropole der Eidgenossen, in Genf, bedeutende
europäische Intellektuelle zusammen. Den Höhepunkt dieser „Rencontres inter-
nationales“ bildet, wie ein italienischer Teilnehmer schreibt, die Kontroverse zwi-
schen einem „hochgewachsenen Gentleman mit einem a priori liebenswürdigen
Gesicht“, Karl Jaspers, und dem kleineren Georg Lukäcs mit seinem „harten Ar-
beiter-Gesicht und einer mitteleuropäischen Löwenmähne.“ Hier geht es freilich
nur um Jaspers.
Jaspers wendet sich in Genf drei Fragen zu. In der ersten Frage: „Was ist Eu-
ropa?“ skizziert er eine Behauptung, die er drei Jahre später in seiner Universal-
geschichte und Geschichtsphilosophie Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949,
19 ff.) ausbauen wird. (Während die heutige Generation für ihr ökologisches En-
gagement Hans Jonas’ Prinzip der Verantwortung, 1979, eine geistige Vorreiterrolle
einräumt, betont schon Jaspers viele Jahre vorher, in seinem geschichtsphilosophi-
schen Werk, das einschlägige Prinzip knapp und ohne Jonas’ prophetisches Pathos.
Denn dort erklärt er, der Mensch „verbraucht“ die Erde.)
Nach einem der nicht so zahlreichen bis heute noch erörterten Gedanken
von Jaspers (z. B. Assmann 2018, Habermas 2019) werden in einer außergewöhn-
lichen Menschheitsepoche, in sechs Jahrhunderten um die Mitte des ersten Jahr-
tausends v. Chr., in dieser „Achse der Weltgeschichte“, unabhängig voneinander
„alle Grundgedanken der folgenden Kulturen gewonnen“. Der Ausdruck „Ach-
senzeit“ dürfte Jaspers’ eigene, originelle Wortschöpfung sein. Die Sache findet
sich aber schon beim Bruder von Max Weber, dem Kultursoziologen Alfred Weber.
In dessen Kulturgeschichte als Kultursoziologie (1935, 7 f.) heißt es prägnant: „Vom 9.
bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. gelangen die drei Kultursphären der Welt, die vor-
derasiatisch-griechische, die indische und chinesische, in merkwürdiger Gleich-

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