B. Die Mitglieder
studieren, ebenso wenig ein wirtschaftswissenschaftliches Fach. So stolperte ich
schließlich in mein Bonnerjurastudium ungefähr so ahnungslos und unbeholfen
hinein wie Eichendorffs Taugenichts in die Welt.
Die Gewöhnung an die juristische Methode, große Fragen durch die Zerle-
gung in immer detailliertere Prüfungspunkte gleichsam kleinzuarbeiten und sie
dadurch einer für Fachkollegen nachvollziehbaren Antwort zuzuführen, fiel mir
schwer. Umso erleichterter war ich, als ich erfuhr, dass man sich auch als Jurist mit
Geschichte und Philosophie beschäftigen kann. Ich hatte das Glück, schon ab dem
zweiten Semester im Institut für Römisches Recht arbeiten und dort, wenngleich
natürlich nur in einer ganz untergeordneten Rolle, an dem Jahrhundertprojekt
einer Neuübersetzung der Digesten teilnehmen zu können. Vor allem aber geriet
ich in das Kraftfeld meines späteren Lehrers, des Strafrechtlers und Rechtsphilo-
sophen Günther Jakobs.
Jakobs war gerade erst von Regensburg, wo ich 17 Jahre später seine Nach-
Nachfolge antreten sollte, nach Bonn berufen worden. Je nach Perspektive galt er
entweder als Erneuerer der Allgemeinen Verbrechenslehre oder - mit der Kenn-
zeichnung Kants durch Moses Mendelssohn zu sprechen - als „Alleszertrümme-
rer“; jedenfalls war er ebenso berühmt wie umstritten. Auf einen kurzen Nenner
gebracht, wendete Jakobs sich gegen ein Strafrechtsdenken, welches sich eine
strikte gesellschaftstheoretische Abstinenz auferlegte und die genuin wissenschaft-
liche Befassung mit dem Strafrecht auf die Ermittlung und Anwendung hochab-
strakter, angeblich zeitlos gültiger Seinsgesetzlichkeiten wie etwa den Begriff der
Handlung beschränkte. Dieser Enthaltsamkeit, in ihrem ostentativ unpolitischen
Duktus eine typische Nachkriegsposition, die am wirkungsmächtigsten übrigens
von seinem eigenen Lehrer vertreten wurde, setzte Jakobs in lockerem Anschluss
an eine vor allem von dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons und seinem
deutschen Schüler, dem frühen Niklas Luhmann, vertretene Theorielinie eine
funktionalistische Konzeption entgegen. Statt als Spiegel zeitenthobener ontischer
Gegebenheiten sei das Strafrecht danach von seiner sozialen Aufgabe her zu be-
greifen, und diese bestehe in seinem Beitrag zur Erhaltung der - wie Jakobs es
nennt - normativen Identität der konkret in Rede stehenden Gesellschaft.
Ich fand diese Konzeption faszinierend und irritierend zugleich. Faszinie-
rend, weil es sich bei ihr um den ersten ernstzunehmenden Versuch handelte, die
Strafrechtswissenschaft endlich wieder auf die Höhe des zeitgenössischen Theo-
riestandes in den Sozialwissenschaften zu bringen; irritierend, weil Aussagen über
die gesellschaftliche Funktion des Strafrechts meines Erachtens zur Beantwortung
der strafrechtswissenschaftlich grundlegenden Frage nach den Gründen der bür-
gerlichen Gehorsamspflicht und der staatlichen Zwangsbefugnis von vornherein
ungeeignet sind. Schärfer formuliert: Ich hatte den Eindruck, dass Jakobs die ge-
nuin normative Binnenperspektive der Strafrechtswissenschaft durch eine sozi-
alwissenschaftliche Außenperspektive ersetzt hatte, allerdings ohne sich über die
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studieren, ebenso wenig ein wirtschaftswissenschaftliches Fach. So stolperte ich
schließlich in mein Bonnerjurastudium ungefähr so ahnungslos und unbeholfen
hinein wie Eichendorffs Taugenichts in die Welt.
Die Gewöhnung an die juristische Methode, große Fragen durch die Zerle-
gung in immer detailliertere Prüfungspunkte gleichsam kleinzuarbeiten und sie
dadurch einer für Fachkollegen nachvollziehbaren Antwort zuzuführen, fiel mir
schwer. Umso erleichterter war ich, als ich erfuhr, dass man sich auch als Jurist mit
Geschichte und Philosophie beschäftigen kann. Ich hatte das Glück, schon ab dem
zweiten Semester im Institut für Römisches Recht arbeiten und dort, wenngleich
natürlich nur in einer ganz untergeordneten Rolle, an dem Jahrhundertprojekt
einer Neuübersetzung der Digesten teilnehmen zu können. Vor allem aber geriet
ich in das Kraftfeld meines späteren Lehrers, des Strafrechtlers und Rechtsphilo-
sophen Günther Jakobs.
Jakobs war gerade erst von Regensburg, wo ich 17 Jahre später seine Nach-
Nachfolge antreten sollte, nach Bonn berufen worden. Je nach Perspektive galt er
entweder als Erneuerer der Allgemeinen Verbrechenslehre oder - mit der Kenn-
zeichnung Kants durch Moses Mendelssohn zu sprechen - als „Alleszertrümme-
rer“; jedenfalls war er ebenso berühmt wie umstritten. Auf einen kurzen Nenner
gebracht, wendete Jakobs sich gegen ein Strafrechtsdenken, welches sich eine
strikte gesellschaftstheoretische Abstinenz auferlegte und die genuin wissenschaft-
liche Befassung mit dem Strafrecht auf die Ermittlung und Anwendung hochab-
strakter, angeblich zeitlos gültiger Seinsgesetzlichkeiten wie etwa den Begriff der
Handlung beschränkte. Dieser Enthaltsamkeit, in ihrem ostentativ unpolitischen
Duktus eine typische Nachkriegsposition, die am wirkungsmächtigsten übrigens
von seinem eigenen Lehrer vertreten wurde, setzte Jakobs in lockerem Anschluss
an eine vor allem von dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons und seinem
deutschen Schüler, dem frühen Niklas Luhmann, vertretene Theorielinie eine
funktionalistische Konzeption entgegen. Statt als Spiegel zeitenthobener ontischer
Gegebenheiten sei das Strafrecht danach von seiner sozialen Aufgabe her zu be-
greifen, und diese bestehe in seinem Beitrag zur Erhaltung der - wie Jakobs es
nennt - normativen Identität der konkret in Rede stehenden Gesellschaft.
Ich fand diese Konzeption faszinierend und irritierend zugleich. Faszinie-
rend, weil es sich bei ihr um den ersten ernstzunehmenden Versuch handelte, die
Strafrechtswissenschaft endlich wieder auf die Höhe des zeitgenössischen Theo-
riestandes in den Sozialwissenschaften zu bringen; irritierend, weil Aussagen über
die gesellschaftliche Funktion des Strafrechts meines Erachtens zur Beantwortung
der strafrechtswissenschaftlich grundlegenden Frage nach den Gründen der bür-
gerlichen Gehorsamspflicht und der staatlichen Zwangsbefugnis von vornherein
ungeeignet sind. Schärfer formuliert: Ich hatte den Eindruck, dass Jakobs die ge-
nuin normative Binnenperspektive der Strafrechtswissenschaft durch eine sozi-
alwissenschaftliche Außenperspektive ersetzt hatte, allerdings ohne sich über die
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