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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2019 — 2020

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B. Die Mitglieder
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I. Antrittsreden
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Michael Pawlik
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https://doi.org/10.11588/diglit.55176#0165
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Antrittsrede von Michael Pawlik

legt, an der Verhinderung zufällig eintretender Verluste von existenziell bedeut-
samem Ausmaß mitzuwirken.
Die Zurückführung eines strafrechtlichen Instituts auf den Gedanken einer
Mitwirkungspflicht gegenüber der Allgemeinheit, die den Einzelnen kraft seiner
Bürgerstellung treffe, stand dem individualistischen Zeitgeist diametral entgegen.
Aber hatte nicht der Ideenhistoriker Quentin Skinner gezeigt, dass es neben der
liberalen auch eine, wenngleich im heutigen Alltagsbewusstsein weit weniger prä-
sente republikanische Traditionslinie gibt, in welche die Annahme einer solchen
Mitwirkungspflicht nahtlos hineinpasst? Und beinhaltet das Projekt einer sowohl
gesellschaftstheoretisch als auch normativ reflektierten Strafrechtswissenschaft
nicht die Forderung nach einer Korrektur inadäquater - in Hegelscher Sprache:
unangemessen abstrakter - sozialer Selbstdeutungen? Kurzum, ich glaubte gute
Gründe dafür zu haben, an diesem Gedanken festzuhalten und seine strafrechts-
theoretische Tauglichkeit näher zu untersuchen. Das Ergebnis waren zwei weitere
Monographien. Ich schrieb sie allerdings nicht mehr in Mecklenburg, sondern
in Bayern. 2003 war ich nach Regensburg gewechselt, an die alte Wirkungsstätte
meines Lehrers.
Im ersten meiner bayerischen Bücher legte ich den Gedanken, dass strafrecht-
liches Unrecht im Kern nichts anderes sei als eine Mitwirkungspflichtverletzung,
in den Grundzügen dar, im zweiten entwickelte ich daraus eine umfassende All-
gemeine Verbrechenslehre. In den sieben Jahren, die ich daran schrieb, lernte ich
nicht nur, meine häufig unklaren und wirren Gedankenfetzen zu einem halbwegs
kohärenten Ganzen zusammenzufügen. Da ich stark ideengeschichtlich arbeitete,
hatte ich auch reichlich Gelegenheit, den Anregungsreichtum und die gedankliche
Tiefe vieler Stimmen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu bewundern,
die Macht des seither eingetretenen kollektiven Vergessens zu beklagen und die
Brüchigkeit der Fundamente zu inspizieren, auf denen das äußerlich so stolze Ge-
bäude des heute herrschenden Strafrechtssystems ruht.
Als das Buch 2012 erschien, war ich deshalb nicht nur, ja nicht einmal in erster
Linie erleichtert, sondern vor allem tief besorgt. War die Selbstgewissheit, mit der
die deutsche Strafrechtswissenschaft sich als Brot für die Welt anbot, noch gerecht-
fertigt? Ruhten wir uns nicht vielmehr auf welkendem Lorbeer aus? Und war dafür
nicht zu einem beträchtlichen Teil der Verlust dessen verantwortlich, was ich mit
Robert Musil den Möglichkeitssinn nennen möchte: den Sinn für Alternativen zu
den überkommenen Deutungen und Legitimationsfiguren, der aus der Einsicht in
deren vielfältige - politische, kulturelle, soziale - Bedingtheit erwächst?
Eine Krise bewältigt man nicht dadurch, dass man sie bejammert. Als ich 2013
nach Freiburg wechselte, war ich bereits dazu entschlossen, mich nochmals an
einem monographischen Großprojekt zu versuchen: einer Geschichte des straf-
rechtsphilosophischen Denkens in Deutschland von Kant bis zur Gegenwart.
Erneut durchlebe ich dabei ein Wechselspiel aus Bewunderung, Schrecken und

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